Potemkinscher Realismus
Das Publikum und die Kritik, erst in den USA, dann bei uns, haben
Jonathan Franzens Roman "Korrekturen" begrüßt, als sei ihnen der
Messias erschienen. Von Oprah Winfrey bis zur FAZ war das Entzücken
groß, die erste Million ist verkauft, Franzen ist der Star der Saison.
Fragt sich nur: Wie kommt's? Franzen selbst, scheint es, hat die Perspektive
vorgegeben. In seinen früheren Werken hat er sich am Experiment
abgemüht, ohne große Resonanz, und hat dann - natürlich gleich
öffentlich - beschlossen, Jahre zu investieren in einen Gesellschaftsroman,
in dem Amerika und der Gegenwart mit ausdauerndem erzählerischen Atem
der Spiegel vorgehalten wird. Warum, so Franzen trotzig und alle sprechen
es ihm nach, soll man heute keinen realistischen Roman nach Art des 19.
Jahrhunderts schreiben können, gegen alle akademische Skepsis und als
Gegengift gegen die bei aller Welthaltigkeit leserunfreundliche Raffinesse
von Pynchon, DeLillo, Gaddis & Co.
Zum Schauplatz, an dem sich die Gegenwart versammeln soll, wird die
amerikanische Familie Lambert, Mutter Enid und Vater Alfred wohnen noch im
mittleren Westen, wo sie auch hingehören, denn nicht nur ihre
Moralvorstellungen sind von vorgestern. Die an die Ostküste geflohenen
Kinder Chip und Gary und Denise dafür sind mitten drin in den kulturellen
und ökonomischen Strudeln der Gegenwart. Der Roman beschäftigt
sich abwechselnd mit allen Beteiligten, erzählt Geschichten aus ihrem
Leben und zwar immer so, dass jeder mitkommt. Diese Leben ergeben im Grunde
jedes einen Roman, mit grobem Garn ist das zusammengenäht, aber auf
unlösbare Weise ineinander geschlungen ist es nicht, auch wenn am Ende
alles auf die große weihnachtliche Wiederbegegnung der Familie
hinausläuft: mit Müh und Not, mit dem Schweiß der Anstrengung
auf der Stirn schiebt der Erzähler die Geröllhalden seiner Einzelromane
zum Schlussbild zusammen.
Die Teilstücke sind streng um ihre jeweiligen Protagonisten
herumgebaut. In deutlich ausgeflaggten Rückblenden wird psychologische
Erläuterung herangeschafft: Chip, dessen akademische Karriere den Bach
runtergeht, war als Junge schon ein Schwindler vor dem Herrn, für Denise's
sexuelle Verunsicherung gibt es gleichfalls gute, zum besseren Verständnis
vorgeführte Gründe. Keine der Figuren gerät dabei zu mehr
als zum Schattenriss ihrer selbst. Franzen behängt sie mit aktuellen
und zeitlosen Problemen, mit Lüsten und Krankheiten und Neurosen und
Alkoholismus und Börsenschwindeleien, alles kommt vor, nichts wird
ausgelassen und am Ende ächzen sie alle unter der Last des vermeintlich
Lebensechten, die sie, zum höheren Zwecke des Gesellschaftsromans, zu
tragen haben.
Nicht minder problematisch als die Menge des Materials, das Franzen
in seinen Roman gestopft hat, ist die Behandlung. Er ist nämlich alles
andere als der geborene Erzähler, als der er sich mit den "Korrekturen"
zu inszenieren versucht. Sein Entwurf des Romans, der nicht Kopfgeburt sein
soll, ist nichts anderes als das. Satz für Satz steht ihm das, dem Leser
zum baldigen Verdruss, auf die Stirn geschrieben. Franzen erzählt nicht,
sondern er transformiert sein Wissen in Fiktion. Weder die Sprache ist zuerst
da noch die Lust am Fabulieren, sondern der Stoff, der, koste es, was es
wolle, unterzubringen ist und der Kommentar, die Erläuterung, die
anzubringen sind. Die Figuren rennen, von Anfang an, dem hinterher, was ihnen,
der Ambition des Autors wegen, zustoßen muss. Eine Satire auf die politisch
korrekte Kulturlinke hat Franzen sich vorgenommen, da muss Chip jetzt durch
(übrigens ist sie reichlich abgeschmackt, die Satire). Den Teil mit
der Geschlechterverwirrung hat Denise abbekommen, Alfred darf sich mit Parkinson
herumschlagen, Gary trinkt zu viel. Enid hat auf der Kreuzfahrt, auf der
es zur einzig wirklich komischen Szene des Romans kommt, eine Affäre
mit Psychopharmaka. Dann hat der Autor noch eine Reise ins
transformationsgeschüttelte Litauen gemacht, das ist wieder was für
Chip, so geht das die ganze Zeit. Das ist doch kein Leben, auch nicht für
eine Romanfigur.
Fürs Detail interessiert sich Franzen dabei kein bisschen: Denise
ist Köchin, aber nicht in Ansätzen wird der Versuch unternommen,
sie aus diesem Punkt heraus dem Leser vors Auge zu stellen. Auch Chip wird
im akademischen Feld nur entlang der dümmsten Klischees verortet,
übers bloß Exemplarische (und exemplarisch Dumme) gelangt das
nirgends hinaus. Zudem führt der Erzähler seine Figuren fast
durchgehend am Gängelband seiner Ansichten und Erklärungen: über
eine halbe Seite erläutert er etwa, was Denise, als sie in ihr erstes
sexuelles Abenteuer rennt, alles nicht kapiert. Er kann es nicht zeigen,
also bietet er den psycho-sozialen Kommentar: "Sie kam nicht auf die Idee,
dass Don Armours Hauptwesenszug das Selbstmitleid war und dass er, mit ebendiesem
Selbstmitleid, schon viele Mödchen vo rihr herumgekriegt hatte. (...)
Sie kam nicht auf die Idee, dass Don Armour der Klassenunterschied zwischen
ihnen beiden, der ihr unangenehm war, vielleicht gerade reizte.(...) Nichts
von alledem kam Denise in den Sinn, damals ebenso wenig wie später."
Und nichts von alledem kann der Autor voführen, in fast jede Szene,
die er beschreibt, drängt sich - und sei es in den unauffälligsten
Wendungen - die den Figuren und ihrer Perspektive fremde Stimme des immer
eine Spur zu neunmalklugen Erzählers.
Enid öffnet die Tür, vor der ihr Sohn Gary steht. Der Anblick,
der sich bietet, wird so beschrieben: "Die Straße war von jenem
widernatürlich goldenen Licht aus den Häusern überflutet,
mit dem ein weniger begabter Maler die Teilung des Roten Meers illuminieren
mochte." Wo, fragt man sich, kommt plötzlich das Rote Meer her? Dass
es sich um Enids Assoziation handeln könnte, ist höchst
unwahrscheinlich. Nein, hier spricht der Erzähler, und zwar mitten hinein
in Enids Wahrnehmung, aus der er mit seinem Farbvergleich auf irritierende
Weise hinausspringt. Das geht so ein ums andere Mal und es ist nichts anderes
als der selbstgefällige Wunsch einer Erzählerstimme, immer selbst
im Vordergrund zu stehen. Alfred, der Eisenbahner, sinnt nach über
glückliche Zeiten in der Vergangenheit: "Das waren Abende, und es gab
Hunderte, vielleicht Tausende davon, an denen nichts die Keimzelle der Familie
befallen hatte, was traumatisch genug gewesen wäre, eine Narbe zu
hinterlassen." Unter den mit viel Fleiß gesuchten Metaphern ist das
noch eine der weniger verunglückten, jedoch: wer denkt hier, bringt
die Erinnerung auf dieses denkbar unsinnliche Bild? Wieder und wieder schmuggelt
Franzen ein seltsam szientistisches Vokabular in seine oft ganz unsäglich
misslungenen Vergleiche und Metaphern und stößt damit seine Figuren,
die von den angeschleppten Sprachspielen keine Ahnung haben können,
vor den Kopf.
Der Dauerton der Erzählerstimme, bald schon ein Tinnitus im Leserohr,
scheint ein Symptom. Keineswegs nämlich ist Franzen, wie er behauptet,
von seinem Temperament her ein realistischer Erzähler: die glatte
Identifikation, das Entwickeln von Psychologie und Geschichten aus der Logik
der Narration oder der Sprache, all das bleibt seiner Prosa denkbar fremd.
Die Naivität der Mimesis ist vielmehr Produkt der Reflexion, die in
der Erzählerstimme Symptom wird. Franzen will durch die Hintertür
wieder ins Paradies, aber es geht nicht. Er hat das Paradies des vormodernen
Erzählens mit viel Mühe nachgebaut, aber es ist eine potemkinsche
Realität: auf der Rückseite der Figuren und der Gegenstände
steht immer schon der Kommentar, die wissenschaftliche Beschreibung. Franzen
liefert keine Individuen, sondern aufgespießte und scheinhaft reanimierte
Exempel für dies und das. "Korrekturen" ist ein Romanimitat und kein
Roman. Er ist synthetischer als die avantgardistischste Fiktion, aber er
verleugnet es. Er ist nicht Fisch und nicht Fleisch und doch stürzt
sich alle Welt mit Heißhunger darauf
zur Jump Cut Startseite |