Matthew Barney: Cremaster 3 (2002)

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Matthew Barney

Matthew Barney wurde 1967 in San Francisco geboren, ist aber in Idaho aufgewachsen, lebt und arbeitet heute in New York. Nach einem B.A. in Yale arbeitete er vorwiegend als Videokünstler, mit fast unmittelbarem Erfolg: Bereits 1993 war er auf der Kunstbiennale von Venedig vertreten. Der nun abgeschlossene Cremaster-Zyklus, haargenau auf der Grenze zwischen Kunst und Film angesiedelt, ist sein bisheriges Hauptwerk.
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Cremaster 3: Zahnfolter, menschliche Skulpturen und die unheimliche Macht der Architektur
Kritik von Nina Beate Hein

Cremaster

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Spätestens seit dem Krieg der Sterne weiss man, dass Filmzyklen nicht mit der ersten Folge anfangen müssen, sondern - warum auch nicht? - mit dem vierten Teil beginnen können. Diesem „Star Wars“-Prinzip folgend begann Matthew Barney 1994 seinen fünfteiligen Cremaster-Zyklus also mit der vierten Folge und drehte sich dann so langsam durch den Zyklus (es folgten Teil 1, 5 und 2). Mit Cremaster 3, der am 1. Mai 2002 im New Yorker Ziegfeld Theater seine Weltpremiere feierte und am 15. Mai offiziell im Programmkino Film Forum (New York) anlief, beendete Barney dieses Jahr seine cinematographische Erkundung von Architektur und Körper. (Interessantererweise lief Cremaster 3 in den USA fast gleichzeitig mit der neuer Episode von Krieg der Sterne an.)

Cremaster 3 ist nicht nur der letzte und längste (mit 182 Minuten fast dreimal so lang wie die anderen Folgen), sondern bei weitem auch der künstlerisch ambitionierteste Teil des Video-Zyklus. Bestechend durch seine extrem scharfen, konstrastreichen Bilder (gefilmt mit modernsten 24p Hi Def Kameras) zeigt der Film fantastische Welten, in denen Tänzerinnen, mutierte Menschen, hässliche Höhlenmenschen, Gangster und andere groteske Kreaturen wohnen. Krieg der Sterne und Herr der Ringe Fans werden jedoch enttäuscht sein, denn, wie allen Cremaster Folgen liegt dem Film keine durchgehende Handlung zu Grunde und verzichtet zudem ganz auf Dialog. Stattdessen spielt Barney auf surreale Weise mit Mythos, Symbolen und Bildern, und mit den Ikonen der amerikanischen Popkultur. Im Vordergrund seines letzten Filmes stehen Architektur und nicht zuletzt der menschliche Körper: Cremaster ist der anatomische Begriff für einen Muskel im Hoden, der auf externe Stimuli mit Zusammenziehen reagiert.

Jeder Teil des Zyklus steht in einer anderen theatralen oder filmischen Tradition: Cremaster 1 (1995) parodiert zum Beispiel Busby Berkelys Tanzspektakel der zwanziger Jahre und die Filme von Leni Riefenstahl; Cremaster 5 (1997) dagegen spielt als lyrische Oper in einem ungarischen Opernhaus, während der zweite Teil (1999) als Westernparodie gestaltet ist. In Cremaster 3 nimmt Barney sich die amerikanischen Gangsterfilme der dreissiger und vierziger Jahre zum Vorbild und kombiniert sie mit Elementen des Zombiethrillers.

Barneys absolute Begeisterung für den Horrorfilm begann schon während der Schulzeit. Was den Maler, Photographen und Installationskünstler an diesem Genre besonders interessiert, sind die abnormen, mutierten Gestalten ebenso wie die Architektur als ein prägendes Element dieser Filme.

Wie Architektur die Handlung bestimmen kann, demonstriert Barney meisterhaft in Cremaster 3. Während der Film mit Szenen eingeleitet wird, in denen Inselbewohner noch in Höhlen oder einfachen Hütten leben, verlagert sich kurz darauf der Schauplatz auf eine andere Insel: Manhattan. Der Kontrast zwischen den ersten Bildern von den landschaftlich einmaligen Inseln vor Nordirland und Schottland und dem Inneren des New Yorker Wahrzeichen, dem Chrysler Gebäude, könnte nicht grösser sein. Das Chrysler, 1930 für den Automobilfrabikanten Walter P. Chrysler gebaut, ist ein Glanzstück der Art Deco Architektur und bietet mit seiner überladenen, doch schlichten Ausstattung die ideale Kulisse für einen abstrusen Gangsterfilm.

Im Turm, dessen gestaffelte Spitze mit ihren Bögen und Dreiecksfenstern stolz und elegant aus dem New Yorker Häusermeer ragt (sonst werden keine Aussenaufnahmen der Stadt gezeigt), passieren ungewöhnliche, ja unheimliche Dinge: Ein Zombie wird unter dem Gebäude gefunden, ausgegraben und in einen schwarzen Oldtimer gesetzt (natürlich ein Chrysler-Wagen), der mitten in der marmornen Aufzugshalle steht. Um den schwarzen Wagen scharen sich fünf Chryslerwagen des Typs Crown Imperials, Baujahr 1967, die plötzlich den Oldtimer angreifen. Gerade so, als ob der Wagen ein Spielball wäre, treten, oder besser gesagt, rammen die Autos unermüdlich den Oldtimer, bis er zuletzt ganz zu einen Schrottball geworden ist. In diesen Szenen zelebriert Barney die pure Lust am Zerstören, denn nicht nur das Sammlerstück und sein unheimlicher Insasse, sondern auch die Halle werden in Mitleidenschaft gezogen.

Später wird der zusammengedrückte Wagen effektvoll als Instrument eingesetzt, dem „Entered Apprentice“ (der Lehrling wird von Matthew Barney selbst gespielt) die Zähne einzurammen.

Zahnfolter-als Inbegriff der Gewalt. Der amerikanische Bildhauer Richard Serra in der Rolle des legendären Architekten Hiram Abiff stopft dem Lehrling ein längliches Stück Blech (die Überreste des Oldtimers) in den Mund und bricht ihm damit sämtliche Zähne aus. Einen direkten Grund scheint es nicht dafür zu geben, doch kann man die Zahnfolter als Bestrafung dafür sehen, dass der Lehrling versucht hatte, einzelne Teile des Gebäudes, vor allem die Aufzüge, zu sabotieren.

Die Zahnfolter ist systematisch und ausgeklügelt. Der Lehrling sitzt in einem Zahnarzt/Gebärstuhl, wird von vier Gangstern entblösst - der Kamerablick fällt auf mutierte Genitalien! Daraufhin wird ihm eine Maske angelegt, bevor ihm die Zähne eingerammt werden, die er dann zusammen mit den Gedärmen ausscheidet. Das Ganze mutet wie eine Operation an und unterscheidet sich merklich von der blinden Zerstörungswut, die in einer anderen Szene dem gegenübersteht. In der Trabrennbahn in Saratoga Springs im Staate New York legen vier Gangster dem Lehrling einen Pferdezaum an und zwingen ihn, sich seine Zähne an einem Stück Holz auszubeissen. Das Motiv wird ein letztes Mal aufgenommen, als sich ein Höhlenmensch die Zähne an einer seltsamen weissen Kugel in einer der letzten Aufnahmen ausbeisst.

Trotz dieser blutigen Episoden geraten Zerstörung und Gewalt nie völlig in den Vordergrund. Für den Künstler Barney gehören eben Schöpfung und Zerstörung unweigerlich zusammen, als ob alles Geschaffene irgendwie zerstört werden müsste. Zudem gelingen Barney immer wieder ironische Kontrapunkte und Momente puren Slapsticks, die den Film davor bewahren, ganz ins Horrorgenre abzustürzen oder sich selbst zu ernst zu nehmen.

Die architektonischen Schauplätze verleihen dem surrealen Film Einheit. Neben dem Chrysler Gebäude wird vor allem ein anderes New Yorker Wahrzeichen, das Guggenheim Museum, entworfen von Frank Lloyd Wright und weltweit bekannt durch seine spriralförmige Halle, zum Schauplatz des zweiten Drittel des Films.

Mit dem Wechsel des Spielortes ändert sich die Ästhetik des Films grundlegend. Der letzte Teil hat die Form eines Videospiels und der „Apprentice“, als Spielfigur, muss sich von einer Aufgabe zur nächsten „durchspielen“. Dabei muss er verschiedene Gegenspieler überwinden, die je eine Ebene im Guggenheim Museum beherrschen. Barney, lächerlich ausstaffiert in rosa Kilt und Fellhut, hangelt sich von Stockwerk zu Stockwerk die Spirale hinauf und konfrontiert eine Steptanztruppe im Lämmchenkostüm, zwei Hardrock Bands mit ihren Fans und eine Frau mit Glasfüssen, die sich plötzlich in eine wildkatzenartige Kreatur verwandelt. Am Schluss verliert er das Spiel und landet wieder im Brunnen in der Eingangshalle des Museums mitten unter Badenixen. Nach den sich oft qualvoll hinziehenden Szenen im Chrysler Gebäude bildet der letzte Teil durch die spielerischen Elemente und die athletische Betätigung einen notwendigen Kontrapunkt.

Unter den Gegenspielern sticht die Frau mit den Glasfüssen heraus. Gespielt von der Athletin Aimee Mullins, die mit ihren Beinprothesen Weltrekorde in Kurzstrecke und Weitsprung gewonnen hat, hat die Frau mit den Glasprothesen sichtbar Schwierigkeiten beim Laufen. Erst als sie sich in eine Wildkatze verwandelt, kann sie sich freier bewegen, denn die Glasprothesen zwingen ihren Körper in eine - für Mullins - unbequeme, aufrechte Position. Zudem verschärfen die Glasfüsse auf unheimliche Weise die Künstlichkeit der Extremitäten. Der Mensch wird zur Skulptur, ein artifizielles Wesen, genauso wie das Chrysler, das Guggenheim Museum und der Film zum Kunstobjekt.

Als letzter Teil und Herzstück des Cremaster-Zyklus nimmt Cremaster 3 viele Motive aus den früheren Episoden auf. Obwohl jeder Film für sich eine Existenzberechtigung hat, gehen zu viele Elemente verloren, wenn die Filme nicht im Kontext, als Zyklus, betrachtet werden können. Die Möglichkeit, eine Retrospektive des gesamten Zyklus zu sehen, bietet sich ab 6. Juni im Ludwigs Museum in Köln (bis zum 1. September). Danach geht die Ausstellung, organisiert von der Solomon R. Guggenheim Foundation, vom 10. Oktober 2002 bis 5. Januar 2003 in das Musée d‘Art Moderne de la Ville de Paris und anschliessend ins Solomon R. Guggenheim Museum in New York, vom 14. Februar 2003 bis 11. May 2003. Die Wanderausstellung zeigt alle fünf Cremaster Episoden, zudem Barneys Skultpuren, Bilder und Photographien, die er im Zusammenhang mit den Filmen geschaffen hat.

Cremaster 3 ist die erste Folge, die zudem in den Kinos anläuft und nicht, wie die anderen, nur als Teil einer Ausstellung gezeigt wird und deshalb nur von einer beschränkten Anzahl an Galerie- und Museumsbesuchern gesehen werden kann. Zwar erlangte Barney, ursprünglich aus San Francisco, aber seit mehreren Jahren in New York ansässig, erhöhten Bekanntheitsgrad durch seine Liaison mit Rockstar Bjork, doch ist der Mittdreissiger trotz allem ein Phänomen der hippen Kunstszene. Vielleicht etabliert sich Barney, der bereits mit Mitte Zwanzig in der Kunstszene als wichtigster amerikanischer Künstler der Zeit gefeiert wurde, mit Cremaster 3 bei einem breiteren Kinopublikum.

Cremaster 3 (USA 2002, 182 Minuten) Buch und Regie: Matthew Barney, Produzent: Barbara Gladstone und Matthew Barney, Kamera: Peter Strietmann, Musik: Jonathan Bepler. Mit: Richard Serra, Aimee Mullins, Matthew Barney. Ein Glacier Field LLC Film.

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