Spätestens seit dem Krieg der Sterne weiss man, dass
Filmzyklen nicht mit der ersten Folge anfangen müssen, sondern - warum
auch nicht? - mit dem vierten Teil beginnen können. Diesem Star
Wars-Prinzip folgend begann Matthew Barney 1994 seinen fünfteiligen
Cremaster-Zyklus also mit der vierten Folge und drehte sich dann so langsam
durch den Zyklus (es folgten Teil 1, 5 und 2). Mit Cremaster 3, der am 1.
Mai 2002 im New Yorker Ziegfeld Theater seine Weltpremiere feierte und am
15. Mai offiziell im Programmkino Film Forum (New York) anlief, beendete
Barney dieses Jahr seine cinematographische Erkundung von Architektur und
Körper. (Interessantererweise lief Cremaster 3 in den USA fast gleichzeitig
mit der neuer Episode von Krieg der Sterne an.)
Cremaster 3 ist nicht nur der letzte und längste (mit 182 Minuten
fast dreimal so lang wie die anderen Folgen), sondern bei weitem auch der
künstlerisch ambitionierteste Teil des Video-Zyklus. Bestechend durch
seine extrem scharfen, konstrastreichen Bilder (gefilmt mit modernsten 24p
Hi Def Kameras) zeigt der Film fantastische Welten, in denen Tänzerinnen,
mutierte Menschen, hässliche Höhlenmenschen, Gangster und andere
groteske Kreaturen wohnen. Krieg der Sterne und Herr der Ringe
Fans werden jedoch enttäuscht sein, denn, wie allen Cremaster Folgen
liegt dem Film keine durchgehende Handlung zu Grunde und verzichtet zudem
ganz auf Dialog. Stattdessen spielt Barney auf surreale Weise mit Mythos,
Symbolen und Bildern, und mit den Ikonen der amerikanischen Popkultur. Im
Vordergrund seines letzten Filmes stehen Architektur und nicht zuletzt der
menschliche Körper: Cremaster ist der anatomische Begriff für einen
Muskel im Hoden, der auf externe Stimuli mit Zusammenziehen reagiert.
Jeder Teil des Zyklus steht in einer anderen theatralen oder filmischen
Tradition: Cremaster 1 (1995) parodiert zum Beispiel Busby Berkelys Tanzspektakel
der zwanziger Jahre und die Filme von Leni Riefenstahl; Cremaster 5 (1997)
dagegen spielt als lyrische Oper in einem ungarischen Opernhaus, während
der zweite Teil (1999) als Westernparodie gestaltet ist. In Cremaster 3 nimmt
Barney sich die amerikanischen Gangsterfilme der dreissiger und vierziger
Jahre zum Vorbild und kombiniert sie mit Elementen des Zombiethrillers.
Barneys absolute Begeisterung für den Horrorfilm begann schon
während der Schulzeit. Was den Maler, Photographen und
Installationskünstler an diesem Genre besonders interessiert, sind die
abnormen, mutierten Gestalten ebenso wie die Architektur als ein prägendes
Element dieser Filme.
Wie Architektur die Handlung bestimmen kann, demonstriert Barney
meisterhaft in Cremaster 3. Während der Film mit Szenen eingeleitet
wird, in denen Inselbewohner noch in Höhlen oder einfachen Hütten
leben, verlagert sich kurz darauf der Schauplatz auf eine andere Insel:
Manhattan. Der Kontrast zwischen den ersten Bildern von den landschaftlich
einmaligen Inseln vor Nordirland und Schottland und dem Inneren des New Yorker
Wahrzeichen, dem Chrysler Gebäude, könnte nicht grösser sein.
Das Chrysler, 1930 für den Automobilfrabikanten Walter P. Chrysler gebaut,
ist ein Glanzstück der Art Deco Architektur und bietet mit seiner
überladenen, doch schlichten Ausstattung die ideale Kulisse für
einen abstrusen Gangsterfilm.
Im Turm, dessen gestaffelte Spitze mit ihren Bögen und
Dreiecksfenstern stolz und elegant aus dem New Yorker Häusermeer ragt
(sonst werden keine Aussenaufnahmen der Stadt gezeigt), passieren
ungewöhnliche, ja unheimliche Dinge: Ein Zombie wird unter dem Gebäude
gefunden, ausgegraben und in einen schwarzen Oldtimer gesetzt (natürlich
ein Chrysler-Wagen), der mitten in der marmornen Aufzugshalle steht. Um den
schwarzen Wagen scharen sich fünf Chryslerwagen des Typs Crown Imperials,
Baujahr 1967, die plötzlich den Oldtimer angreifen. Gerade so, als ob
der Wagen ein Spielball wäre, treten, oder besser gesagt, rammen die
Autos unermüdlich den Oldtimer, bis er zuletzt ganz zu einen Schrottball
geworden ist. In diesen Szenen zelebriert Barney die pure Lust am
Zerstören, denn nicht nur das Sammlerstück und sein unheimlicher
Insasse, sondern auch die Halle werden in Mitleidenschaft gezogen.
Später wird der zusammengedrückte Wagen effektvoll als
Instrument eingesetzt, dem Entered Apprentice (der Lehrling wird
von Matthew Barney selbst gespielt) die Zähne einzurammen.
Zahnfolter-als Inbegriff der Gewalt. Der amerikanische Bildhauer Richard
Serra in der Rolle des legendären Architekten Hiram Abiff stopft dem
Lehrling ein längliches Stück Blech (die Überreste des Oldtimers)
in den Mund und bricht ihm damit sämtliche Zähne aus. Einen direkten
Grund scheint es nicht dafür zu geben, doch kann man die Zahnfolter
als Bestrafung dafür sehen, dass der Lehrling versucht hatte, einzelne
Teile des Gebäudes, vor allem die Aufzüge, zu sabotieren.
Die Zahnfolter ist systematisch und ausgeklügelt. Der Lehrling
sitzt in einem Zahnarzt/Gebärstuhl, wird von vier Gangstern entblösst
- der Kamerablick fällt auf mutierte Genitalien! Daraufhin wird ihm
eine Maske angelegt, bevor ihm die Zähne eingerammt werden, die er dann
zusammen mit den Gedärmen ausscheidet. Das Ganze mutet wie eine Operation
an und unterscheidet sich merklich von der blinden Zerstörungswut, die
in einer anderen Szene dem gegenübersteht. In der Trabrennbahn in Saratoga
Springs im Staate New York legen vier Gangster dem Lehrling einen Pferdezaum
an und zwingen ihn, sich seine Zähne an einem Stück Holz auszubeissen.
Das Motiv wird ein letztes Mal aufgenommen, als sich ein Höhlenmensch
die Zähne an einer seltsamen weissen Kugel in einer der letzten Aufnahmen
ausbeisst.
Trotz dieser blutigen Episoden geraten Zerstörung und Gewalt
nie völlig in den Vordergrund. Für den Künstler Barney
gehören eben Schöpfung und Zerstörung unweigerlich zusammen,
als ob alles Geschaffene irgendwie zerstört werden müsste. Zudem
gelingen Barney immer wieder ironische Kontrapunkte und Momente puren Slapsticks,
die den Film davor bewahren, ganz ins Horrorgenre abzustürzen oder sich
selbst zu ernst zu nehmen.
Die architektonischen Schauplätze verleihen dem surrealen Film
Einheit. Neben dem Chrysler Gebäude wird vor allem ein anderes New Yorker
Wahrzeichen, das Guggenheim Museum, entworfen von Frank Lloyd Wright und
weltweit bekannt durch seine spriralförmige Halle, zum Schauplatz des
zweiten Drittel des Films.
Mit dem Wechsel des Spielortes ändert sich die Ästhetik
des Films grundlegend. Der letzte Teil hat die Form eines Videospiels und
der Apprentice, als Spielfigur, muss sich von einer Aufgabe zur
nächsten durchspielen. Dabei muss er verschiedene Gegenspieler
überwinden, die je eine Ebene im Guggenheim Museum beherrschen. Barney,
lächerlich ausstaffiert in rosa Kilt und Fellhut, hangelt sich von Stockwerk
zu Stockwerk die Spirale hinauf und konfrontiert eine Steptanztruppe im
Lämmchenkostüm, zwei Hardrock Bands mit ihren Fans und eine Frau
mit Glasfüssen, die sich plötzlich in eine wildkatzenartige Kreatur
verwandelt. Am Schluss verliert er das Spiel und landet wieder im Brunnen
in der Eingangshalle des Museums mitten unter Badenixen. Nach den sich oft
qualvoll hinziehenden Szenen im Chrysler Gebäude bildet der letzte Teil
durch die spielerischen Elemente und die athletische Betätigung einen
notwendigen Kontrapunkt.
Unter den Gegenspielern sticht die Frau mit den Glasfüssen heraus.
Gespielt von der Athletin Aimee Mullins, die mit ihren Beinprothesen Weltrekorde
in Kurzstrecke und Weitsprung gewonnen hat, hat die Frau mit den Glasprothesen
sichtbar Schwierigkeiten beim Laufen. Erst als sie sich in eine Wildkatze
verwandelt, kann sie sich freier bewegen, denn die Glasprothesen zwingen
ihren Körper in eine - für Mullins - unbequeme, aufrechte Position.
Zudem verschärfen die Glasfüsse auf unheimliche Weise die
Künstlichkeit der Extremitäten. Der Mensch wird zur Skulptur, ein
artifizielles Wesen, genauso wie das Chrysler, das Guggenheim Museum und
der Film zum Kunstobjekt.
Als letzter Teil und Herzstück des Cremaster-Zyklus nimmt Cremaster
3 viele Motive aus den früheren Episoden auf. Obwohl jeder Film für
sich eine Existenzberechtigung hat, gehen zu viele Elemente verloren, wenn
die Filme nicht im Kontext, als Zyklus, betrachtet werden können. Die
Möglichkeit, eine Retrospektive des gesamten Zyklus zu sehen, bietet
sich ab 6. Juni im Ludwigs Museum in Köln (bis zum 1. September). Danach
geht die Ausstellung, organisiert von der Solomon R. Guggenheim Foundation,
vom 10. Oktober 2002 bis 5. Januar 2003 in das Musée dArt Moderne
de la Ville de Paris und anschliessend ins Solomon R. Guggenheim Museum in
New York, vom 14. Februar 2003 bis 11. May 2003. Die Wanderausstellung zeigt
alle fünf Cremaster Episoden, zudem Barneys Skultpuren, Bilder und
Photographien, die er im Zusammenhang mit den Filmen geschaffen hat.
Cremaster 3 ist die erste Folge, die zudem in den Kinos anläuft
und nicht, wie die anderen, nur als Teil einer Ausstellung gezeigt wird und
deshalb nur von einer beschränkten Anzahl an Galerie- und Museumsbesuchern
gesehen werden kann. Zwar erlangte Barney, ursprünglich aus San Francisco,
aber seit mehreren Jahren in New York ansässig, erhöhten
Bekanntheitsgrad durch seine Liaison mit Rockstar Bjork, doch ist der
Mittdreissiger trotz allem ein Phänomen der hippen Kunstszene. Vielleicht
etabliert sich Barney, der bereits mit Mitte Zwanzig in der Kunstszene als
wichtigster amerikanischer Künstler der Zeit gefeiert wurde, mit Cremaster
3 bei einem breiteren Kinopublikum.
Cremaster 3 (USA 2002, 182 Minuten) Buch und Regie: Matthew Barney,
Produzent: Barbara Gladstone und Matthew Barney, Kamera: Peter Strietmann,
Musik: Jonathan Bepler. Mit: Richard Serra, Aimee Mullins, Matthew Barney.
Ein Glacier Field LLC Film. |