Die Documenta bietet dem Besucher offene Räume und geschlossene,
zu manchen ist der Zugang reguliert durch Posten am Eingang, andere sind
vergleichsweise menschenleer: so Hanne Darbovens Allegorie
vergehender/vergangener Zeit, tausende von Seiten gefüllt mit nichts
als ausgeschriebenen Zahlen, die nichts signifizieren als sich und, eben,
das Vergehen der Zeit. Drei Stockwerke, ein ganzer Apsis-artiger Raum des
Fridericianums ist gefüllt mit den gerahmten (natürlich:)
schreibmaschinenbeschriebenen Seiten, oder genauer: nicht gefüllt, sondern
halbrund leer, Leute verlieren sich davor, bleiben nicht hängen, gehen
weiter, verlassen den Raum. Wer sollte das lesen, man nimmt zur Kenntnis:
es wiederholt sich, es ist immer dasselbe, es ist nichts und wieder nichts,
an dem man Interesse haben könnte. Keine Geschichten, keine Notizen,
kein Bezug zu Biografischem, Aktuellem, Historischem: Nichts. Des
Totenschädels, der dazu schweigt am Fuße des Ganzen, hätte
es, weiß Gott, nicht bedurft.
Dies aber ist ganz untypischer Raum. Typischer, neben den konventionellen
weißen Kuben mit Bildern, Fotografien an den Wänden oder
Installationen im Raum, typischer sind die Dunkelkammern, die Videokabinen,
in die man - stets geht es, das Licht draußen zu halten, um mehr als
eine Ecke - abzweigt wie in eine andere Welt. Die Schrifttafeln verkünden
Künstlernamen und Titel, oft aber auch sämtliche Credits und, vor
allem, die Länge des Films. Die Videos fordern Eigenzeit, Echtzeit,
Scannen unmöglich, man harrt aus und verpasst den großen Teil
vom Rest oder es bleibt nicht mehr als ein Eindruck. Emblematisch treffen
in dieser Differenz der - eingespielten, aber zugleich in die Logik der Medien
eingetragenen - Rezeptionshaltung die Sphären aufeinander, kommt es
zum sanften Crash zwischen der Flaneur-Haltung des Ausstellungsbesuchers
und der Bannung vor die Leinwand, die der Film (hier stets, unabhängig
vom eigentlichen Aufnahmemedium, per Video gebeamt) fordert. Die Folge ist
die Produktion eines permanenten schlechten Gewissens, der ständige
Verstoß gegen einen der mächtigsten Ordnungsrufe des Mediums Film:
du sollst mich von Anfang bis Ende sehen (ein Ordnungsruf, dem kaum zu entkommen
ist, nicht durch die Endlosschleife, nicht einmal durch die Aufsplitterung
der "Filme" auf mehrere Leinwände; vielleicht durch die
Echtzeit-Direktübertragung).
Hier, unter diesem eingestandenen Rezeptionsvorbehalt, Hinweise auf
einzelne bei der Documenta gezeigte Videos und Videoinstallationen.
Die iranische Künstlerin Shirin Neshat etwa setzt,
überraschend genug, auf Hollywood-Ästhetik: randvolle, dräuende
Tonspur, erlesen inszeniert die Bilder von David Finchers Kameramann Darius
Khondji. Was man sieht: eine Frau in einem Baumstamm, der Baum in einem
ummauerten Garten (eine Anspielung auf den umfriedeten Paradiesesgarten des
Islam), Männer, die sich durch wüste Landschaft dem Garten
nähern, Männer, die im Kreis sitzen zu stampfender Musik. Am Ende
wird die Frau verschwunden, werden die Männer in den Garten eingedrungen
sein.
Zwei Leindwände: auf der einen zoomt lange Zeit die Kamera langsam
weg vom Gesicht der Frau. Sie beginnt beim Auge, nach und und nach kommt
das ganze Gesicht ins Bild, der Baum, in dessen Stamm die Frau, wie in einen
Sarg, eingelassen ist, der Garten. Unterdessen, auf der anderen Leinwand:
die leere Landschaft füllt sich, einzelne Figuren erst, dann mehr, sie
formieren sich zu einer Bewegung, die auf den Garten, der erhöht liegt,
zuläuft. Dazwischengeschnitten die Männer im Kreis, betend vielleicht,
beratschlagend vielleicht. Hier eine Bewegung der Annäherung der Kamera
bei jeder neuen Einblendung, am Ende wird sie mitten unter ihnen sein, zwischen
ihnen herumfahren. Der Zusammenhang zwischen den Männern hier (kein
identifizierbarer Hintergrund, kein Hinweis auf einen offenen oder geschlossenen
Raum), denen in der Landschaft wird nicht eindeutig geklärt.
Wenn die Männer den Garten erreicht haben, wird die Frau verschwunden
sein: auf ihrer Leinwand, die zwischendurch die Bilder der anderen Seite,
zum Teil verschoben, übernommen hat, ist die Kamera nun in durch Schnitte
unterstützen Zooms wieder dicht ans Gesicht der Frau herangetreten,
dann verschwindet sie, aus dem Bild, in den Baum (?), der sich schließt:
nichts als der Stamm zu sehen. Ein Film der Annäherung und der Entfernung
- eine Meditation, liest man, über den Garten Eden -, einer Drohung,
die in der Luft liegt, die sich nicht zu erfüllen scheint. Tooba endet
mit dem Rückzug in die Distanz: mit großen Schritten entfernt
sich die Kamera vom in der Ferne verschwindenden Garten.
Was man sieht, ist klar und einfach, natürlich darf man sich
an die Rauminszenierungen von Abbas Kiarostami erinnert fühlen - in
Der Wind wird uns tragen gab es eine ähnliche Anhöhe, einen
ähnlichen Baum -, Neshat aber verkleistert alle Klarheit mit dem Lack
des Hollywoodbilds und des Hollywoodtons. Mit doppeltem, visuellem und
akustischem Pathos, mit der schieren, ausgestellten Schönheit auch dieser
Bilder, scheint sie den Betrachter überwältigen zu wollen: man
wehrt sich mit nicht zu beseitigendem Unbehagen.
Ganz
anders, nicht ohne einen selbst leise pathetischen Gestus der Pathosverweigerung
Igor und Svetlana Kopystianskis Videoinstallation
Flow.
Hier gibt es keine Handlung, keine Bewegung der Annäherung oder
Entfernung, nur ein sich gleich bleibendes Treiben: zum akustischen Rauschen
im Hintergrund driftet Zivilisationsmüll der beinahe transparenten Sorte
durch Wasser: eine Plastiktüte, ein Gummihandschuh, eine Zeitung. Im
Fluss bleiben auch alle Deutungsoptionen: von banaler Zivilisationskritik
bis zum Empfinden seltsamer Ruhe und Schönheit der aus ihren Nutzkontexten
gerissenen Gegenstände. Dies ist keine Müllhalde, sondern Wasser;
hier stinkt nichts, sondern wird umflossen, treibt schwerelos auf allen
Wänden, wenn man will gar: plazentaesk. Ein Ruheraum.
Zwei Räume, einen größeren und einen kleinen, dazwischen
eine Wand, beansprucht die Installation Countenance von Fiona Tan.
Auf drei mittelgroßen Leinwänden im Hochformat sehen wir Bilder
von Menschen, Fotografien scheinen es auf den ersten Blick, aber das sind
sie gerade nicht, keine stills, sondern bewegte Bilder unbewegter Menschen.
Zwanzig Sekunden ungefähr hat Tan sie, die dabei still stehen oder sitzen
sollen, abgefilmt, die meisten bleiben ungerührt, der eine oder andere
kann sich ein unsicheres Lächeln nicht verkneifen.
Mit Zwischentiteln werden sie vorgestellt, nicht persönlich,
sondern mit ihren Berufen: Telefonist, Designer, Psychologe. Oder auch einfach:
Mutter und Kind, das Kind hält nicht still, sondern versteckt sich hinter
den Beinen der Mutter. Aufgenommen sind die Bilder nicht mit der Video-,
sondern der Filmkamera, der bloßen Aufzeichnung aber doppelt
entrückt: ins Schwarzweiß zum einen, ins Körnige der schlechten
Auflösung (mutmaßlich 8mm-Film) zum anderen. Ein wenig ist es
die Erfüllung des alten U-Bahn-Spiels der Spekulationen: Wer, was
könnte mein Gegenüber sein, womit verbringt er seine Tage. Man
weiß nicht, ob Tans spärliche Informationen vielleicht nur Fakes
sind - zusätzlich authentifizierend wirkt freilich die autobiografische
Erzählung zur Entstehung der Aufnahmen, die zu rasch wechselnden, nicht
erläuterten Bildern im kleinen Nebenraum als einzige Tonspur der
Installation läuft. Die Frage nach der Wahrheit ist hier jedoch kaum
sehr bedeutsam: das Interesse des Betrachters dockt bereitwillig an, schon
an die sparsamen Daten, die es geliefert bekommt, beobachtet Menschen, die
sich der Konstruktion eines Selbstbilds ausgesetzt sehen. Spontan entwickelt
man Sympathien und Antipathien, merkt, wie die Phantasie in Gang kommt und
möchte eigentlich immer weiter gucken, muss dann aber, stattdessen,
weiter gehen.
Etwa zu Chantal Akermans Video-Arrangement Von der
anderen Seite, das - neben einem Prolog mit Autorücklichtern
nachts auf einem Highway und einer mal englischen, mal spanischen
Erzählerinnenstimme darunter - drei dichte Reihen von Fernseh-Monitoren
zu Bildern von der mexikanisch-amerikanischen Grenze gruppiert. Auf dreien
von ihnen nebeneinander ein Autofahrt- und Kamera-Travelling, den Form und
Gestalt ändernden Grenzzaun entlang, mal menschenleer, mal an
schäbigen Häusern, mal an leerer Wüste vorüber. Andere
Bilder zeigen nächtliche Aufnahmen, Suchscheinwerfer huschen auf der
Suche nach Menschen durch die Dunkelheit. Davor Eindrücke von einer
mexikanischen Familie, dahinter die Bilder einer amerikanischen
Überwachungskamera. Bald stellt sich aber Ratlosigkeit ein: das ganze
scheint sich zu nicht mehr als der politisch korrekten Botschaft zu addieren,
dass diese Grenze zwischen arm und reich unmenschlich ist. Nichts, was wir
nicht vorher gewusst hätten. Womöglich nicht mehr als eine
Dokumentation, die sich zur Videoinstallation spreizt.
Raffinierter,
witziger, hintergründiger das, was die Atlas-Group als zugespieltes
Archivmaterial präsentiert. Als Kommentator der Lage im Libanon wird
ein Historiker vorgestellt, dessen idiosynkratische Sammlungen Schlaglichter
bizarre auf den Krieg werfen: eine Kollektion von Fotos der Autotypen, die
bei Autobombenanschlägen Verwendung fanden. Zeitungsausrisse von
Pferderennen-Zieleinläufen, auf die in einem ausgeklügelten System
libanesische Historiker gesetzt haben. Und Filmmaterial: im raschen Wechsel
etwa die Bilder, je eine Aufnahme, von Tagen, an denen der Historiker das
Kriegsende gekommen wähnte und solche von Arztpraxis-Schildern: das
verdichtet sich im Vorbeiflug zum Nonsens, um den es sich handelt. Alles
gefaket, ebenso wie die Geschichte vom Agenten, der die Strandpromenade Corniche
in Beirut filmen sollte, diese Aufnahmen jedoch jeden Abend zugunsten von
Bildern des Sonnenuntergangs unterbrach. Mit pseudokumentarischer Genauigkeit
liefern die Text-Vorspänne die genauen Umstände der Entstehung,
Datum und Uhrzeitzeilen zeugen zusätzlich von der Authentizität
der Bilder. Amnesty International, nehme ich mal an, is not amused. |