Retrospektive Yasujiro Ozu

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Die Filme von Yasujiro Ozu
Texte von Ekkehard Knörer

 Fortsetzung: frühere Ozu-Filme

Tokyo Story (Tokyo Monogatari; 1953)

Eine subjektive Einstellung: Blick von der Seite auf Shukishi (Chishu Ryu), dann der Schnitt, gerahmter Blick aus dem Fenster, links füllt ein Haus die Hälfte des freien Raums, rechts sieht man auf einem Damm fast als Schatten gegen den Horizont seine Frau Tomi (Chieko Higashiyama) mit ihrem Enkelsohn. Mit dem nächsten Schnitt springt die Kamera zu den beiden, er pflückt (oder eher: rupft) Blumen, sie beobachtet ihn dabei und fragt sich, wie viel sie noch erleben wird von der Zukunft des Kindes.

So vieles ist vertraut aus früheren Filmen, Konstellationen gleichen sich, gar die Namen, die Themen und Motive. Stadt und Land, die Züge wiederum; ein schräg angeschnittener Blick auf einen Bahnhof ist, parallel zum Fahren der Schiffe, auf der Tonspur durch ein ständiges Tuckern untermalt, eines der Leitmotive des Films, der das Fahren und Fließen betont und diese ständigen (langsamen) Bewegungen mit dem Sitzen und Reden kontrastiert. Eine kleine Typologie des Sitzens und Liegens ließe sich erstellen in diesem Film: gesellig, Tee trinkend etwa; das Trinkgelage der drei alten Männer in einer Kneipe, dem Unglück abgetrotzt, nirgends recht erwünscht zu sein. Shukishi, der mit seinem Freund zurückkehrt ins Haus der Tochter, die ihn verachtet, betrunken torkeln sie in die Sessel des Friseursalons, sinken in sich zusammen und schlafen ein. Die Fahrt im Bus durch Tokio, in dem eifrig gebaut wird, mit Liebe, nicht ohne Komik zeigt Ozu die staunenden Provinzler, Shukishi mit Hut, im Gewackel des fahrenden Buses. Shukishi und Tomi mitten in der Stadt, essend, vertrieben aus dem Haus der Tochter, der anderer Besuch wichtiger ist, dann im Badeort, nachts in ihren Betten liegend, von draußen der Lärm, sie können nicht einschlafen. Am nächsten Morgen sitzen sie, müde, am Meer auf der Mole. Sie wissen, dass man sie hierher abgeschoben hat, sie beschließen, nach Hause zu fahren. Dann: Tomi sterbend, Shukishi sitzt daneben, kurz darauf draußen, der Sohn, der Arzt ist, sagt, sie wird die Nacht nicht überleben. "Das also ist das Ende", meint Shukishi, mehr sagt er nicht.

Das Nicht-mehr-Sagen ist nicht mit Lakonie zu verwechseln. Alles Sprechen hat in den späten Ozu-Filmen eine Tendenz ins Formelhafte, vom Sprichwort zur ständig wiederholten, die Zustände wie vorsichtig abschmeckenden Floskel ("So des ne" heißt es immer wieder. "So also ist das" oder "Aha" oder "Nun ja"). Das Sitzen, das Sprechen, das Wahrnehmen der Welt: das alles tut sich nicht auf einmal. Das Schweigen und das leere Sprechen ist ein Kauen an der Welt, nicht Reflexion, nicht Reaktion. Dem, was einem widerfährt - und es sind die schlimmsten Bösartigkeiten darunter - gilt es mit aller Höflichkeit zu begegnen, es ist, als würde ihm ein Recht eingeräumt einfach, weil es ist. Wenn der jüngste Sohn den trauernden Vater verlassen will eines Baseballspiels wegen, meint der nur (und er meint es, wie er es sagt): ihr habt viel zu tun. Noriko (Setsuko Hara), die Schwiegertochter, ist die rätselhafteste Figur des Films. Verwandt den von ihren Kindern enttäuschten Eltern in derselben Demut den Dingen gegenüber, die auch eine Unfähigkeit zur Aktion ist, ein Verhaftetsein ans Vertraute, in ihrem Fall: der im Krieg ums Leben gekommene Ehemann. Manchmal denke ich tagelang nicht an ihn, sagt sie, den Verdacht (seiner Eltern) abwehrend, sie komme nicht von ihm los. Sein Foto steht auf einer Kommode wie auf einem kleinen Altar im winzigen Zimmer. Sie ist es, die im Gespräch, ohne mit der Wimper zu zucken, davon spricht, dass man vom Leben nicht zu viel erwarten darf. "Das Leben ist eine Enttäuschung", sagt ihr Gegenüber. "So ist es", sagt sie. Mehr nicht.

Flavour of Green Tea Over Rice (Ochazuke no aji ; 1952)

Ein Film höchst eleganter Gewichtsverlagerungen. Er beginnt als Komödie einer hoffnungslos gescheiterten Ehe, führt die Frau vor im Kreis ihrer Freundinnen, die sich, mit Lug und Skrupellosigkeit, aus dem Ehealltag davonstehlen, in einen Badeort. Mokichi, der Ehemann, scheint im besten Fall desinteressiert, spricht wenig, geht seinen eigenen Interessen nach: man sieht ihn an seinem Schreibtisch, lesend, in einem Wörterbuch nachschlagend. Indem er wenig von ihm zeigt, scheint der Film erst einmal auf der Seite der Frau, die freilich mehr als rüde ist: Herr Dummkopf nennt sie ihren Mann Mokichi, ein ums andere Mal.

Unmerklich fällt der Fokus anderswohin: auf Setsuko, die zunächst einmal nichts als naiv erscheint, die Nichte Taekos, der Ehefrau. In einer ersten Szene wird sie gewarnt: die Ehe ist die Hölle, du kannst nicht mehr tun und lassen, was du willst. Die Lektion scheint sie gelernt zu haben: Man findet einen Mann für sie, im Theater soll sie ihn kennenlernen. Wir sehen kein einziges Bild von der Bühne und wir sehen auch sie nicht: nur den designierten Ehemann und die Tante, ihren Kopf verrenkend, Ausschau haltend, Setsuko taucht nicht auf. Stattdessen: Sie ist im Pachinko, mit ihrem Onkel und dessen Protegé, aus den Vorhaltungen macht sie sich nichts. Eine Szene später. Taeko fordert ihren Mann auf, die Nichte zu schelten. Er tut es, nicht sehr gerne, deutlich wird die Solidarität zwischen den beiden. In brutaler Offenheit meint er kurz darauf: Vielleicht ist es gut so, es könnte enden wie bei uns.

Viel mehr als von Ozu gewohnt gibt es hier leise Kamerafahrten, auf die Personen zu, vor allem auf ihn, im Haus, aber auch im Büro, sein Schreibtisch. Nicht als Zoom (es folgt dann über Zwischengründe hinweg der Sprung in die Halbnahe), sondern als sanfteste Annäherung. Es ist, der Seltenheit wegen, jede Bewegung der Kamera in den späteren Ozu-Filmen bewegend - nicht im Auto, nicht am Zug als Mitnahme diegetischer Bewegung -, sondern als vorsichtige Stellung-Nahme zu den Figuren. Zumal es die Bewegung des Blicks ist, metaphorisch gesprochen, der immer einer der des Näherkommens ist - als Distanzreduktion, nicht, nie und nimmer, als Aufdringlichkeit. Die Regel bleibt, hier vielleicht entschiedener noch als sonst, der Schutzraum: Zwischen der Kamera und der Figur vermitteln Wände, eine, zwei, drei, vor der Figur, dahinter: es ist, als sollte sie durch eine Haut aus Raum vor dem Zudringen des Blicks, auch der psychologischen Deutung bewahrt bleiben. Nicht nur die Wände, auch Gegenstände im Vordergrund bieten, in beinahe jeder Einstellung zunächst einen Wall aus Materialität. Erst wenn der Abstand bestimmt ist, erfolgt der Sprung in die amerikanische Einstellung (niemals gibt es Großaufnahmen), im Schuss und Gegenschuss des Dialogs aber immer noch um das winzige sich leicht verfehlender Blicklinien distanziert.

Von Setsukos Geschichte verlagert sich der Schwerpunkt beinahe unmerklich zurück auf die der Ehe. Aus Taekos Blicken spricht der Hass, sie macht sich davon, unangekündigt. Und ihn schickt sein Chef nach Uruguay, er sendet ein Telegramm, am Flughafen Setsuko und sein Protegé (wir ahnen schon, worauf das mit den beiden hinausläuft), die Schwester seiner Frau: Taeko aber trifft nicht rechtzeitig ein, das Flugzeug hebt ab, das könnte das Ende sein. Ozu aber gönnt den beiden eine letzte Chance. Das Flugzeug kehrt um, ein Problem am Triebwerk, Mokichi und Taeko sehen sich unerwartet doch noch wieder. Was folgt, gehört zum Zartesten bei Ozu: vorsichtig nähert sie sich ihm, nähert er sich ihr (es ist dies die Bewegung des Films): im offenkundig neutralsten Raum des Hauses, der Küche, in der sie sich beide nicht auskennen, finden sie, erstmals, zueinander. Sie suchen sich Essensreste zusammen, er insistiert auf seinem Lieblingsgericht, grüner Tee auf Reis. Gemeinsam am Tisch. Taeko sieht ihren Mann wie das erste Mal: er liebt das Einfache, Vertraute, erlebt ihre Ansprüche als Überforderung. Tränen in ihren Augen, er ist gerührt und das war's. Am nächsten Tag erzählt sie, als hätte sie eine Bekehrung erfahren, ihren Freundinnen davon. Dasselbe, als Beginn einer mehr versprechenden Ehe, folgt als burlesker Epilog zwischen Setsuko und dem Mann, den sie heiraten wird: sie entzieht sich, spielerisch, sie jagen sich, verschwinden, die Kamera folgt nur sehr, sehr zögerlich, in der Ferne.

Early Summer (Bakushu; 1951)

Zwei für Ozu recht ungewöhnliche Einstellungen, eine zu Beginn, eine gegen Ende. Am Anfang: Eine Totale auf ein kleines Tal, einen durchfahrenden Zug, ein Landschaftsbild weit jenseits allen Menschenmaßes - jedoch nicht nach Art der sonst kontrapunktisch zwischen die Geschehnisse geschobenen Aufnahmen von Wäldern oder Bäumen, die beinahe abstrahiert sind zu Bildern der Natur. Sondern etwas, das es sonst kaum gibt, ein Rückzug aus den Verflechtungen der Menschen, ein Blick von Nirgendwo; das wird sich nicht wiederholen in dem Film, der sonst ganz auf die Familie Mamiya konzentriert bleibt, einzig das Schlussbild scheint ein leises Echo dieser Abstandnahme. Die zweite ungewöhnliche Einstellung ist beinahe so etwas wie das Gegenteil der ersten; sie zeigt Noriko (Setsuko Hara) und ihre Schwägerin am Strand, von hinten, die Kamera schwenkt nach oben, höher und höher, affiziert in der eigenen Bewegung auch den Betrachter, es ist eine Szene der Versöhnung, des beginnenden Verständnisses.

Das Problem Norikos ist vertraut: sie ist 28, sie soll verheiratet werden, ihr Chef will die Ehe mit einem Jugendfreund arrangieren. Noriko zögert, sträubt sich, ihr Bruder Koichi (Chishu Ryu) drängt sie, aber auch die Eltern, mit denen Noriko ebenso wie mit Koichi und seiner Familie - darunter zwei höchst ungebärdige Söhne - unter einem Dach lebt, verlieren langsam die Geduld. Beinahe vollständig verbleibt (mit der einen großen Ausnahme) der Film in der Sphäre der Familie Mamiya; ein Einschnitt, den sie erlebt hat, wird mehrmals erwähnt: Shoji, ein weiterer Sohn, ist im Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen. Am Anfang kommt ein tauber und halb seniler Großonkel zu Besuch, die Kinder treiben schlechte Späße mit ihm. Weit spannt Ozu die Darstellung, drei Generationen leben hier miteinander, stehen gegeneinander. Die alle Konvention unterwandernden, sich keinem Befehl unterordnenden Kinder, die in leiser Trauer befangenen Großeltern, die Zwischengeneration mit Noriko, die an der Schwelle steht - und wenn sie sie überschreiten wird, wird auch die Familie auseinanderfallen. Die Großeltern sehen wir zweimal im Gespräch, wir haben ein glückliches Leben geführt, sagt, beim ersten Mal, der Mann. Es hätte glücklicher sein können, meint sie. Es folgt ein Blick in den Himmel, in dem, weit oben, ein Luftballon schwebt. Lange verharrt der Blick darauf. Irgendwo, sagt der Mann, ist ein Kind jetzt unglücklich. Später, wieder die beiden. Sie: Wir haben ein glückliches Leben geführt. Er: Es hätte glücklicher sein können. Norikos Abschied steht jetzt bevor, die Großeltern werden Tokio verlassen müssen, die Familie löst sich auf. Bakushu ist also auch die Darstellung eines letzten Moments, dem sein Vorübergehen als Melancholie wie als Spannung zwischen die Zeilen des Gezeigten und des Gesprochenen geschrieben steht. Charakteristisch eingefangen wird dieser Moment - wie in "Brothers and Sisters of the Toda Family", nur steht er da am Anfang, hier am Ende - in einer Fotografie: die ganze Familie in einem Bild, ein letztes Mal, vielleicht.

Was das Glück ist, was die Liebe und wie das eine sich, auf Dauer, zum anderen verhält: diese Fragen durchziehen, wie ein ums andere Mal eigentlich alle späteren Ozu-Filme, auch "Bakushu". Noriko gibt darauf eine Antwort, es ist nicht die von der Konvention erwünschte. Sie heiratet nicht den wohlhabenden Mann, den der Chef ihr vorgeschlagen hat, den wir nicht zu sehen bekommen, sondern Yabe, den Assistenten ihres Bruders, der soeben eine Stelle im weit entfernten Akita angenommen hat. Er ist Witwer und hat eine kleine Tochter; nicht zuletzt finanzielle Probleme sind es (ausdrücklich spielen sie hier immer wieder eine wichtige Rolle), die gegen diese Verbindung sprechen. Noriko aber setzt sich durch. Liebst du Yabe, fragt ihre letzte noch ledige Freundin (auch der Freundeskreis aus Schulzeiten ist dabei, sich aufzulösen)? Nein, meint Noriko, es ist noch nicht Liebe. Eine Frage der Zeit, meint die Freundin. Das Glück ist bei Ozu keine Sache der Überwältigung, der ersten Blicke, des Außergewöhnlichen. Glück ist dann, ließe sich vielleicht sagen, wenn man es nicht merkt.

Die letzte Einstellung. Die Kamera fährt ein wogendes Feld entlang. Weiter geschieht nichts. Das wogende Feld, die Bewegung der Kamera, dazu nur die Musik.

Late Spring (Banshun; 1949)

Es beginnt mit den Bildern einer traditionellen Teezeremonie: dem kleinsten Handgriff gilt die größte Aufmerksamkeit. Dazwischen: hohe Baumwipfel, Wälder, Bilder, die wiederkehren. Schnitt auf Professor Shukichi mit seinem Assistenten Hattori, sie beschäftigen sich mit dem deutschen Ökonomen Friedrich List (später hat Shukichi ein Buch von Nietzsche in der Hand). Dieselbe Sorgfalt wie bei der Teezeremonie, will einem scheinen, im Umgang mit den Büchern. Hinein aber platzt der Ableser von den Elektrizitätswerken. Dies der erste Kontrast: das Vergangene, Friedliche, Hochkodierte, eine Ordnung, aus der so leicht nicht zu fallen ist (später: der Besuch im No-Theater von Vater und Tochter) - und auf der anderen Seite: das Ende dieser Ordnung, die Großstadt, der Weg dahin im Zug vorbei an einem Gasometer (das gut und gerne das aus dem letzten Film sein kann).

Gewendet wird die vorgeführte Auflösung einer statischen gesellschaftlichen Ordnung ins Private. Voneinander trennen müssen sich Vater Shukichi und Tochter Noriko, die nach dem Tod der Mutter geradezu symbiotisch zusammenleben. Die Geschichte ihres langsamen und schmerzhaften Abschieds erzählt "Banshun" mit vielen kleinen Motivvariationen: da gibt es den Kollegen des Vaters, der wieder geheiratet hat, schmutzig ist das, findet Noriko; oder ihre beste Freundin, die sich hat scheiden lassen und nun einen denkbar nüchternen Blick auf die Ehe hat. Es kommt zu Konfrontationen, zwischen Vater und Tochter und zwischen ihr und der Freundin: Ozu montiert sie im schroff frontalen, halbnahen Schuss und Gegenschuss. Ansonsten beobachtet er viel aus der charakteristischen Knapp-einen-Meter-über- dem-Boden-Perspektive - hält das Geschehen auf Abstand zum einen, entwirft zum anderen einen klaren, präzise (mit David Bordwell zu sprechen) in die Tiefe inszenierten Raum. Über den wiederum er sich zugleich lustig machen kann: bei einem Gespräch gerät die Orientierung des Gastes durcheinander: in welche Richtung liegt das Meer, in welche Tokio? Hände weisen von hier nach da, die Kamera sorgt im Achsensprung nicht gerade für Klarheit.

Die Narration zerfällt in Szenen. Des Kontrasts: Teezeremonie und Elektrizität, Land (später ein Ausflug nach Kioto) und Großstadt. Des Zusammenseins: vor allem, immer wieder, von Vater und Tochter. Einmal auch ein Ausflug ans Meer von Noriko und Hattori, die Kamera folgt den Rädern auf dem Fuß, setzt die fahrenden Oberkörper bewegt ins Bild und findet auch hier - wie in den Baumwipfeln immer wieder - zum Stilleben: Die Räder stehen auf einer Böschung, Spuren im Sand. Völlig abwesend bleibt der Ehemann, wir hören nur: er sieht aus wie Gary Cooper. Er hat Noriko gefallen, ihren Vater verlassen möchte sie dennoch nicht. Der, erfahren wir, hat ohnehin zur Lüge gegriffen und beabsichtigt keineswegs, selbst wieder zu heiraten. Wenngleich Norikos geschiedene beste Freundin ihm verspricht, ihn oft zu besuchen. Er kehrt zurück ins Haus, das nun seines ist. Er setzt sich hin und schält einen Apfel, vielleicht die berühmteste Ozu-Einstellung. Danach: Das Meer. Und Ende. (Übrigens nie die Schwarzblende, sondern die Wiederkehr der Anfangstextur des Hintergrunds. Zum Verzicht aufs Abrupte gehört auch das.)

A Hen in the Wind (Kaze no naka no mendori; 1948)

Abwesend wieder: ein Vater und Ehemann, Tokiko muss sich kurz nach dem Krieg alleine durchschlagen, ihr Mann ist noch nicht aus der Gefangenschaft zurückgekehrt. Sie lebt in noch halb zerstörter Vorstadt, visuelles Leitmotiv ein riesiges Gasometer, auf der Brache darum herum Eisenteile, scharfkantig, nutzlos, noch ist nicht wieder aufgeräumt. Hiroshi, der kleine Sohn, wird krank, lebensgefährlich, Tokiko bringt ihn zum Arzt, bezahlen kann sie die Behandlung nicht. Sie geht ins Bordell, verkauft sich dieses eine Mal und erzählt es nicht einmal ihrer besten Freundin (die zuvor den Kontakt hergestellt hatte: zuerst hat, durch ihre Vermittlung, Orie, die Puffmutter, nur Tokikos Kimono verhökert.)

Der Ehemann kehrt, einen Monat später, zurück. Sie erzählt ihm, obwohl sie es nicht vorhatte, was geschehen ist. Ozu schneidet an einer charakteristischen Stelle nicht als Schuss und Gegenschuss, sondern, im Bruch der Perspektiven- und Montage-Konvention, Rücken an Rücken. Es gelingt dem Mann nicht, der Frau ins Gesicht zu sehen, sich nur ihr zuzuwenden. Er steht unter Schock, er will alles ganz genau wissen, er sucht das Bordell auf und spricht mit einer anderen Frau, die sich prostituiert. Ich habe keine andere Wahl, sagt sie, muss meine Familie am Leben halten. Er verspricht ihr, er wird ihr einen ehrlichen Job verschaffen. Seinem Freund sagt er: Ich habe Tokiko verziehen, sie hatte keine andere Wahl, aber beim Gedanken an das, was sie getan hat, zittert mein Körper.

Seltsame Übertragung: die Demütigung der Frau, die schweigt und das Geschehene in sich schließt, bricht am Ehemann als traumatische Reaktion aus und wendet sich gegen die Frau zurück. Er kehrt, eine Nacht lang war er weg, zurück ins Zimmer, in dem sie, zu dritt, zur Untermiete leben. Noch immer sieht er ihr nicht ins Gesicht, er will gehen, sie klammert sich an ihn, fleht ihn an: beschimpfe mich, schlage mich, aber weine nicht, aber geh' nicht. Er stößt sie von sich, sie stürzt die Treppe - aus vielen Einstellungen zuvor eines der visuellen Leitmotive des Films - hinunter, liegt gekrümmt, bewusstlos da. Sie ist ein zweites Mal gefallen, rappelt sich unter Schmerzen auf, quält sich wieder nach oben. In dieser nach außen gewendeten, bei aller Brutalität symbolischen Wiederholung ist der Schock überwunden. Er: Wir müssen vergessen, wir müssen uns der Zukunft zuwenden.

Ein in sich ganz überzeugender Film, ein Porträt einer zerschlagenen Nachkriegsgesellschaft, ironische Kontraste inklusive: hier die Brachlandschaft voller nicht weg geräumter Trümmer, eingefallene Häuser, Straßen, denen der Krieg noch ins Gesicht geschrieben steht - dann aber wird, im Hintergrund einer bitteren Unterredung des Ehemannes mit seinem Freund, getanzt, man sieht, klein, verschwommen, die entspannten Körper hinter Glasscheiben. Irritierend ist freilich, zu welcher allegorischen Lesart man hier eingeladen wird: der Krieg, der Bund mit den Nazis, ein Sündenfall aus Notwendigkeit, dem nur durch das entschlossene Vergessen zu entkommen ist.

Brothers and Sisters of the Toda Family (1941)

Ein letztes Mal kommt die Familie Toda zum 69. Geburtstag des Vaters zusammen, alle Söhne und Töchter, Ozu versammelt sie in Alltagsszenen, dann in einem Familienbild im Freien, erste Risse in der Harmonie zeigen sich schon hier. Bald darauf stirbt der Vater, die Kinder werden informiert und zeigen weniger Bestürzung, als angemessen wäre. Es war, stellt sich heraus, weniger Geld da als vermutet, der Besitz muss aufgelöst werden, ohne eigene Anbindung ziehen nun die Witwe und Setsuko, ihre letzte unverheiratete Tochter zu einem Sohn, mit dessen Ehefrau es zu Konflikten kommt (der letzte unverheiratete Sohn geht unterdessen nach China, ein eigenes Leben zu leben). Die beiden begeben sich zu einer anderen Tochter, im Gepäck immer das Foto vom verstorbenen Ehemann und Vater: der Blick hinauf, die Erinnerung an bessere Zeiten, kehrt ebenso wieder wie das Bild eines Vogels in seinem Käfig, den die beiden mit sich nehmen, den auch keiner haben will.

Auch hier wieder dasselbe: die beiden werden geduldet, aber nicht geliebt. Es kommt zu einem Streit über den Sohn der Tochter, die Mutter hört sich die Vorwürfe an, entschuldigt sich, Setsuko, für die Kamera im Bild hinter einer Seitenwand, krümmt den Rücken, weint. Anders als in früheren Filmen findet die Aggressivität, die hier die Beziehungen bestimmt, keinen Ausdruck in Entladungen: die Schläge werden mit Gesten geführt, mit Untertönen, mit dem bloßen Signal: ihr seid hier unerwünscht. Entsprechend nimmt sich die Inszenierung zurück, geht auf Abstand, zum Beispiel im Fotobild des Beginns, eine Einstellung, die mit Unterbrechungen mehrmals wiederholt wird in einer Kadrierung, die das Bild vom Rand her denkt, der hier der Vordergrund ist: ein Baum, ein Busch, ein Erdhügel, weit dahinter die Familie Toda und die Fotografen. Zum selbstverständlichen Inventar der nicht-narrativen Reihung der Bilder gehören bei Ozu nun Einstellungen auf Gegenstände, manchmal symbolisch aufgeladen (Uhren), manchmal aber wie entleert zur bloßen Pause zwischen anderen Szenen, die, wie unbeteiligt, dann die Figuren im belanglosen Gespräch zeigen.

Die Kamera ist in einer Position der Zeugenschaft, die weder Kommentar noch Dokumentation ist: das elliptischen Voran des Erzählens ist Auswahl, Zuspitzung, Konzentration. All das aber wird in der Inszenierung, in ihrer Langsamkeit und der Reduktion der Gesten, der Bewegungen, beinahe wieder unsichtbar. Dem korrespondiert ein Pathos der Wiederholung und der Leere - das aus früheren Filmen vertraut ist. Einmal sieht man Mutter und Tochter sich von der Kamer entfernen, einer Mauer entlang, auf die der Schatten Streifen malt. Ein Bild der Einsamkeit - untermalt auch von Musik -, das sich gegen Ende wiederholen wird: ohne die Figuren nun. Es schließt sich, in solchen Momenten besonders deutlich, der Film (sanft, ganz sanft) gegen Referenz-Zumutungen, wird zu Rhythmus, Struktur, Wiederholung, kadriertem Bild. Aus dieser so gefundenen Form aber findet er, als Zeuge menschlicher Begegnungen, zu komplexen Einsichten in zwischenmenschliche Verhaltensweisen. Wie wenig das mit Schwere oder Düsternis zu tun haben muss, zeigen die letzten Bilder: der Bruder, aus China zurückgekehrt, entspringt den Versuchen seiner Schwester, ihn unter die Haube zu bringen. In ein Bild des beinahe offenen Horizonts, am Strand, am Meer, zu dem im Scherz, im Ernst der Bruder flieht. Ein überraschend anmutiges, beinahe albernes Ende. Abrupt nämlich folgt auf diese unabgeschlossene Bewegung die Schlusstafel: das Herz des Zuschauers rennt noch ein bisschen weiter.

Fortsetzung: frühere Filme von Ozu

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