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'Time Code': Ein erfolgreiches Experiment
Es ist nicht schwer zu verstehen, warum man eher keine Lust haben
könnte, Time Code zu sehen. Nicht nur handelt es sich um den offensichtlich
experimentellen Umgang mit narrativem Filmemachen - digitale Kameras! vier
Stück! keine Schnitte -, noch dazu bezieht sich der Titel nicht auf
den Plot oder die Charaktere, sondern auf die digitale Technologie des Films.
Das erfreut vielleicht die Videoschnitt-Fans, aber den Rest der ins Kino
gehenden Öffentlichkeit wird es mehr als kalt lassen; die sehen es lieber,
wenn im Filmtitel Wörter wie Impact, Instinct
oder II vorkommen. Falls die Verleiher Glück haben, werden
unaufmerksame Zuschauer sich verlesen und Tickets kaufen in der Annahme,
es handele sich um die Wiederaufführung von Timecop, im Directors Cut.
Stattdessen sieht sich der Betrachter bei Time Code mit einer Leinwand
konfrontiert, die in vier Quadranten aufgeteilt ist. Jeder Quadrant zeigt
das Bild einer einzigen Kamera, die einigen Leuten aus L.A. durch einige
typische L.A.-Lokalitäten folgt - Limousinen, Kinosäle,
Therapeutenzimmer - und auch durch einige untypische. Wer hätte gedacht,
dass es in L.A. Buchhandlungen gibt, und dann auch noch Bereiche jenseits
von L.Ron Hubbard und Syd Field. Die Charaktere kreuzen
gegenseitig ihre Wege und bevor man sich's versieht, hat man vier verschiedene
Bestandteile ein und derselben Geschichte vor sich. Im ersten Moment geht
einem das verwendete Kunstmittel ein wenig auf die Nerven. WEnn sich die
Viertel der Leinwand am Anfang mit Bildern füllen, bekommt man einen
leichten Panikanfall: Wo soll ich hinsehen? Werde ich einen wichtigen Teil
der Handlung verpassen? Wird Kyle MacLachlan genause lächerlich sein
wie in The Doors?
Aber keine Angst: Figgis kann man sich hier anvertrauen. Wenn es
nötig ist, macht er einen sanft, aber bestimmt auf den richtigen Teil
der Leinwand aufmerksam, und zwar durch die so elegante wie wirkungsvolle
Tonspur. Es kann natürlich immer noch passieren, dass alles nichts hilft
und man ständig auf den Ausschnitt mit Salma Hayek starrt, ganz
unabhängig von der Tonspur. Aber das ist vielleicht nur mein Problem.
Dennoch, die lose verbundene und notwendigerweise einfache Geschichte ist
klar. Hayek ist eine ehrgeizige Schauspielerin, deren Freundin (Jeanne
Triplehorn) sie der Untreue verdächtigt, deshalb eine Wanze in ihrem
Geldbeutel versteckt und den Nachmittag damit verbringt, sie aus der Ferne
zu belauschen. So also sieht ein Date mit Lind Tripp aus. Hayek hat
tatsächlich eine Affäre; sie trifft sich mit einem Filmproduzenten
(Stellan Skaarsgard), der Alkoholprobleme hat, und sich gerne mit seiner
Frau (Saffron Burrows) versöhnen würde. Sie begegnen einer ganzen
Menagerie von Bewohnern von Los Angeles. Darunter MacLachlan als locker-flockiger
Filmproduzent, Holly Hunter als superenergische Filmproduzentin und Golden
Brooks als demografisch korrekte schwarze Filmproduzentin.
Julian Sands stielt allen fast die Show als selbstbewusst ahnungsloser
Masseur. Und auch der Kerl aus "Wings" ist nicht schlecht. Dies sind die
Charaktere, die Time Code zu einem lustigen Film machen - und er ist lustiger,
als ein weitgehend improvisierter, von seinem technischen Können besoffener
Film eigentlich sein dürfte. Time Code hatte kein vollständiges
Skript, Figgis hatte die Umrisse der Geschichte vorgegeben - und die Aussicht,
Filmschauspieler improvisieren zu sehen, sollte die Zuschauer schon alleine
in Scharen davontreiben. Beim Blair Witch Project und in Lethal Weapon 4
haben wir gesehen, wohin das führt - zu albernem Gefrotzel, zu
Beleidigungen, Flüchen und Joe Pesci. Und es gibt ein paar Momente in
Time Code, in denen die Darsteller wirklich auf leere Phrasen wie "Was ist
dein Problem" verfallen, was übersetzt heißt "Gebt mir ein Drehbuch,
und zwar sofort, sonst verschwinde ich in meinen Wohnwagen und mache Yoga".
Aber Time Code, im Verbund mit den Realzeit-Drehbedingungen, hat mit
solchen Unternehmungen weniger zu tun als mit Improvisationstheater - und
wie ein Theaterregisseur hat Figgis das Szenario gemeinsam mit den Darstellern
so genau ausgearbeitet, dass Orte und synchronisierte Armbanduhren genaus
wichtig werden wie Dialog und Sprache. Und so kommt es zu hübschen witzigen
Sätzen wie dem der schwarzen Produzentin, die ihre Vorliebe für
"schwarzen Film Noir" äußert und einem prätentiösen,
pseudo-revolutionären Musiker (Alessandro Nivola) mit einer Casio, der
lauthals "Trotsky in the house!" singt. Am allerbesten ist die
selbstgefällige Regisseurin, die Figgis einführt, und die die
ästhetischen und politischen Vorzüge digitaler Videofilme in Echtzeit
mit so gnadenlos lustiger Selbstüberschätzung preist, dass man
fast vergisst, dass sie die Schöpfung eines Regisseurs ist, der die
ästhetischen und politischen Vorzüge digitaler Videofilme in Echtzeit
preist.
Aber das Herz des Films ist die Beziehung zwischen Burrows und Skaarsgard,
die beide die Aufmerksamkeit der Kamera minutenlang mit bloßem stummen
Ausdruck von Melancholie auf sich ziehen können, reizend bei ihr, gereizt
bei ihm. Ihre Verbindung verleiht Time Code eine emotionale Daseinsberechtigung
jenseits des technischen Schnickschnacks. Indem der Film simultan beider
Reaktionen auf die Trennung verfolgt - Heulen auf einer Buchhandlungs-Toilette,
Sex hinter einer Filmleinwand - zeichnet er ein bewegendes Porträt geteilten
Bedauerns. Die Geschichte ist noch nicht einmal zu Ende, wenn die Angeberei
auf der Leinwand beginnt, mit der Angabe, dass der Film um drei Uhr nachmittags
am 19. November in vier jeweils ununterbrochenen Takes gedreht wurde. Das
ist aus mehreren Gründen unklug. Zunächst als Präzedenzfall
- wer will einen Film sehen, der vor den Credits versichert "Dieser Film
wurde in zwei Wochen mit nur 29 Autoren und 101 Drehbuchentwürfen gedreht"
oder "Dieser Film war nach 19 Tagen abgedreht und Charlie Sheen wurde dabei
kein einziges Mal verhaftet."? Wichtiger: dieses selbstzufriedene Ende
impliziert, dass die Leistung von Time Code in erster Linie eine technische
ist. Zum Glück stimmt das nicht.
c) der Übersetzung Ekkehard Knörer
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