Denk ich an Gedichte, denk ich an endlose Nächte, in denen
ich Lyrikzeilen aus dem Deutschbuch auswendig lernte, die am Morgen danach
mit schweißnassen Händen und zittriger Stimme vor der versammelten
Klasse vorgetragen werden mussten, den Blick gen Boden oder auf den gelangweilten
Mitschüler in der ersten Bank gerichtet. Heine, Schiller, Goethe &
Co. wurden einem verleidet, weil ihre mal leichten, mal schwermütigen
Zeilen in der Schmach untergingen, den Reim nicht an der richtigen Stelle
betont oder gar einige Silben in der Aufregung verschluckt zu haben.
Es mag Menschen geben, die angenehmere Erinnerungen an ihre Begegnung
mit Lyrik haben. Für all die anderen bietet sich im Rahmen des
Berliner Sommerfest der Literaturen die Gelegenheit, Poesie im
Film und Film mit Poesie neu zu wahrzunehmen. Das ZEBRA Poetryfilm Festival,
das vom 2. bis 5. Juli in der Kulturbrauerei in Berlin stattfindet, bringt
Lyrik, Ton und Bild zusammen. Und entdeckt - vielleicht - ein neues Filmgenre.
Der Ausschreibung für den ersten Poetryfilm Award folgte - selbst
zur Überraschung der Veranstalter - eine Flut an Einsendungen: Aus 610
Filmen aus 36 Ländern wurden 33 internationale Wettbewerbsbeiträge
ausgewählt. Eine Jury, der unter anderem Bob Holman, der
Urvater des Poetryfilms in den USA, angehört, verleiht drei
Geldpreise. Auch das Publikum stimmt ab und vergibt einen Sachpreis.
Insgesamt 335 Filme, in denen Gedichte im Mittelpunkt stehen, werden
an vier Tagen von 14.30 Uhr bis Mitternacht auf die Leinwand zweier Kinos
in der Kulturbrauerei projiziert: geordnet nach elf thematischen Rubriken
wie Kurz für Kids, Illusionen und Träume,
Liebe und andere Katastrophen, Slam Poetry, Das
Grauen, Stadtgetümmel, Animation, Kurz
und kurz, Trashy, Verwandlungen, Local
Heroes und mit drei Länderschwerpunkten (USA, Großbritannien,
Kanada).
Ein Bob-Holman-Special sowie ein zweitägiges Kolloquium zum
Poetryfilm runden die Veranstaltung ab.
Denk ich an Gedichte, habe ich von nun an die geflüsterten Zeilen
aus Terzinen über Vergänglichkeit von Hugo von
Hofmannsthal, die eine Zeichentrickfigur bis zu ihrem Tod begleiten, vor
Augen. Oder das Gedicht Time, welches wie Klaviernoten über
die Leinwand perlt und aus einem Buchstabengestöber seine Textfragmente
zusammensetzt - um nur zwei Filmbeispiele zu nennen.
Poetryfilm befreit den Textkörper, verleiht ihm eine Stimme,
visualisiert ihn in Bildern, begleitet und akzentuiert ihn musikalisch oder
zerstört ihn. Poesie, die auf die Leinwand geschrieben bzw. auf der
Leinwand umgesetzt wird, erleichtert den Zugang zu Lyrik. Poesie im Film
macht Spaß, Lyrik anders zu entdecken. Film mit Poesie regt an und
schärft den Blick für eine Bild- und Sprach-Ästhetik jenseits
dessen, was täglich auf dem Bildschirm und im Kino geboten wird. Der
Unlust an Sprache in Versform begegnet Poetryfilm mit der Leidenschaft zur
Sprache und Experimentierfreude in der visuellen Umsetzung. Ob er zukünftig
einen dem Musikclip vergleichbaren Status erlangen könnte - wie im
Programmheft zum Festival formuliert-, sei dahingestellt.
*inspiriert durch Filmkritiker - Herolde des
Mainstream von Willi Karow, in: Filmkritik: Bestandsaufnahme und
Perspektiven. Bremer Symposium zum Film II, Filmkritik. Hrsg. von Irmbert
Schenk. Marburg: Schüren, 1998
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