Die Geschichte, die Awaara erzählt, ist eine Demonstration.
Gelandet ist Raj, der Vagabund, zu Beginn des Films, vor Gericht, angeklagt
des versuchten Mordes an einem Richter. Dieser Richter, über den hier,
wie sich im Verlauf zeigt, in Wahrheit zu Gericht gesessen wird (in Form
der Demonstration, die folgt), ist zugleich Rajs Vater Ragdunath (gespielt
von Raj Kapoors Vater Prithviraj). Und als Vater und Richter, also: als
Autoritätsfigur par excellence (überblendet noch mit dem Gott Rama,
der ebenfalls seine Frau, Seeta, verstieß), ist er der Vertreter einer
biologischen Sozialtheorie: die Kinder anständiger Leute werden
anständig, der Nachwuchs von Banditen wird zu Banditen. Auf der
Großaufnahme des Gesichts des Richters als Opfer im Zeugenstand liegt
der Beginn der Vorgeschichte, in einer Doppelbelichtung, die lange genug
anhält, um das Gesicht als Leinwand erscheinen zu lassen, auf die nun
die Demonstration projiziert wird.
An ihm wird das Exempel statuiert, das ihn widerlegt, am eigenen Sohn.
Der Vater wird einer monströsen, selbstgerechten Blindheit
überführt; vorgeführt werden zudem an ihm die verbohrten
Vaterfiguren der indischen Gesellschaft, die den unteren sozialen Schichten
keine Chance geben. Das indische Volk, im Gerichtssaal versammelt, als Jury
und als Publikum, wird einmal von der Kamera, die zum Instrument der Botschaft
wird, die Raj verkündet, ganz explizit zum stummen Zeugen gerufen, der
Geschichte, die der Film entfaltet und deren sozialkritisch-didaktisches
Moment jene Evidenz gewinnt, die ihm nur das schiere Bollywood-Erzählpathos
geben kann, als dessen früher Meister sich Raj Kapoor hier
erweist.
Leela, Rajs Mutter, wird entführt von einem Mann, den Ragdunath
wegen einer Vergewaltigung verurteilt hat: Jagga, Sohn und Enkel von Banditen,
der doch unschuldig ist, verdammt durch das Urteil zur nachholenden Schuld.
Er wird Rajs Mutter nicht vergewaltigen, sie ist schwanger von ihrem Ehemann,
der das aber nicht glauben will und sie, angestachelt durch die umlaufenden
Gerüchte, verstößt. Sie landet auf der Straße, in den
Slums. Kapoor findet dafür, wie meist, das denkbar pathetischste Bild,
Leela im Regen, auf der Gasse, im starken Kontrast der Schwarz-Weiß-Bilder.
Und gleich tritt Jagga, der Bandit, ins Bild. Er wird - bis Raj ihn tötet
- aus dem Leben des Sohns nicht mehr verschwinden, ihn zum Bösen
verführen, als Rache am Vater und zur Demonstration von dessen falscher
Sozialtheorie. Jagga ist die Figur des Teufels (der Film, der dazu tendiert,
deutlich zu sagen, was er zu sagen hat, sagt auch das deutlich: Scheitan),
er wird Rajs Weg ebenso immer wieder kreuzen wie der Vater Ragdunath und
beide verkörpern sie Prinzipien des Bösen. Zwei Vaterfiguren, gemeinsam
stürzen sie Raj ins Elend.
Die strahlende Gegenfigur ist weiblich, es ist nicht die Mutter, die
zu andauernder Passivität verurteilt bleibt: Es ist die Mitschülerin
Rita (gespielt von Nargis), die später Rajs Weg kreuzt, der ihr,
längst ein meisterhafter Taschendieb, die Handtasche stiehlt, und sich,
ohne sie zunächst zu erkennen, verliebt. Ihr Porträt (als junges
Mädchen) hing unterdessen an der Wand seiner Wohnung, als Mahnung und
Erinnerung und bald schon, aus Scham, wird das Gesicht zur Wand gedreht.
Auch hier, in dieser allegorischen Bilderordnung, immer eine Gerichtsszene,
Raj bleibt sich, unter dem Blick der Frau, die für das Gute steht, seines
Fehlens bewusst. Noch den Mord am Vater wird, in letzter Sekunde, dieses
Bild verhindern.
Rita, so zurrt sich die Konstellation wieder zusammen, ist nach dem
Tod ihres Vaters von Ragdunath an Tochter Statt angenommen und wird
Anwältin, die Laufbahn, die Raj durch das Elend, in das ihn der Vater
noch vor seiner Geburt gestoßen hat, verschlossen blieb. Kurz, aber
klar wird, im Gegenzug, gezeigt, wie chancenlos Raj als ehemaliger
Sträfling in der Gesellschaft ist: man feuert ihn, sobald man von seiner
Verfehlung erfährt. Keinen Hehl macht der Film aus dem
quasi-inzestuösen Hintergrund der neu geordneten Familienverhältnisse.
Zur Verachtung für den Mann aus der Gosse kommt die Eifersucht Ragdunaths:
er selbst hat ein Auge auf die Adoptivtochter geworfen und möchte Raj
aus dem Weg räumen.
Ausbuchstabiert wird die Liebe zwischen Rita und Raj in den Musikeinlagen,
von Arrangements, in denen Tänzerinnen als ornamentale Masse in Erscheinung
treten, bis zur Zweisamkeit: auf einem Boot im Angesicht des Mondes (ja,
ein weiteres Angesicht: einer blickt - und sei es eingebildet - fast immer,
als wäre alles Soziale ein Benthamsches Gefängnis), der, im Gesang,
gebeten wird, für einen Moment wegzusehen. Die beiden verschwinden,
zum Kuss, der nicht ins Bild darf, hinter der Leinwand, die das Segel gibt.
In einer anderen Szene aber scheint kein Drittes mehr zwischen den beiden
zu stehen, kein Verbot, kein Mond, kein Vater, keine soziale Wirklichkeit:
Rita im Badeanzug, die beiden verfolgen sich in paradiesischer Oasenlandschaft,
die ausgestellt künstliche Studiolandschaft ist mit gemaltem Hintergrund,
sie springen in ein kleines, aber tiefes Wasser, über das ein Felsvorsprung
ragt. Rasch lädt sich, in der antirealistischen Modellierung, auf die
die Anordnungen des Films immer wieder hinauslaufen, solche Landschaft auf
mit Suggestionen des Symbolischen. Vielleicht gar nicht unmittelbar
entschlüsselbar, aber die Verhältnisse immer zum Bild entrückend
und überhöhend.
Sehr viel entschlüsselbarer dagegen die grandiose, berühmte
Traumsequenz, die in monströser Studiokulisse den Expressionismus auf
die Spitze treibt und eine Schlacht zwischen Gut und Böse, zwischen
Himmel und Hölle, Rita und Jagga inszeniert und die inneren Kämpfe
mit allem Pomp, der Raj Kapoor in seinem eben gegründeten eigenen Studio
zur Verfügung stand, ins Äußere eines Traums wendet. Eine
wiederum andere Form der Gegenwirklichkeit, bestimmt in erster Linie durch
den beträchtlichen Schauwert, nicht durch die Subtilität der
Visualisierung (wobei die hoch eingängige Musik selbstverständlich
nicht vergessen werden darf). Von hier ist es nicht mehr weit zur
Auflösung, zur Erlösung, deren Ort - und das ist nur konsequent
- Gitter sind. Schon der Gerichtssaal selbst ist Sichtbarmachung der Gitter,
die im Sozialen umso wirksamer sind, als sie gerade nicht expliziert werden.
Raj kommt, als Angeklagter, hinter einen Maschendrahtzaun, auf den, durch
den auf ihn der Blick der Kamera die meiste Zeit fällt. Zwei Begegnungen
im Gefängnis resümieren den Film: der Vater, reuig, streckt durch
die Stäbe die Arme dem Sohn entgegen, der die Versöhnung verweigert.
Rita und Raj dagegen liegen sich, durch keine Gitterstäbe zu trennen,
in den Armen: drei Jahre, die Raj als Zwangsarbeiter abzuleisten hat, sind
nichts gegen das Recht der Herzen.
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