Das Plakat zum Filmfestival in Dortmund grüßt am Bahnhof.
Ein großer, brauner Fernseher am orangefarbenem Sandstrand. In der
Ferne brechen Meereswellen gegen das Land. Am Horizont ziehen keine weiße
Wolken vorüber, sondern prangt in großen Lettern das Motto der
diesjährigen Veranstaltung: NO PLACE LIKE HOME.
Der erste lange Festivaltag neigt sich dem Ende zu, und es schießen
einem abstruse Ideen durch den Kopf. Was wäre, wenn es eine Fortsetzung
von Wizard of Oz - aus dem das zum Motto generierte Filmzitat
stammt - gäbe, und Dorothy die Hacken ihrer roten Schuhe nochmals
gegeneinander schlagen und ununterbrochen den magischen Satz wiederholen
würde: There is no place like home?
Dabei könnte man nach diesem Tag klüger sein. Für
Träume blieb in den Filmen der Reihen BEYOND FAMILY, DAS IST KEIN LEBEN,
PASSAGE PERMANENT, PERFORMING THE BORDER und DIASPORA kein Platz. In On
Edge aus Finnland tastet sich Regisseurin Marie Lappaleinen vorsichtig
an das Leben von fünf Jugendlichen im russischen Erziehungsheim heran.
Vom Haarescheren am Anfang, über die Schulklasse bis in den Schlafsaal
begleitet sie die schmächtigen Jungen, die wegen Diebstahl, Vergewaltigung
und Mord hier sind - alle fünf unter 15 Jahren. Sie erzählen der
Regisseurin ihre Geschichten im Heim, und bei der späteren Rückkehr
einiger Jungen in ihre Familien - oder zu dem, was davon übrig blieb
- wird überdeutlich, was zu dem Leben auf der Kippe
führte. In einer eindruckvollen Szene zeigt Lappaleinen den Chor des
Erziehungsheims bei einem Gastauftritt im Männerknast. Wenn die Kamera
auf die versteinerten Gesichter der im Publikum sitzenden Männer schwenkt,
braucht man nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wo Sascha und die
anderen Jungen enden könnten.
DAS IST KEIN LEBEN - Pablo steht vor dem von schwer bewaffneten Polizisten
geschützten Tor zum Präsidentenpalast und kann über das
Unvermögen der argentinischen Politiker nur zornig mit dem Kopf
schütteln. Er will raus aus seiner ruinierten Heimat und mit ihm viele
andere Menschen, die sich auf ihre familiären Wurzeln in der Schweiz
berufen und einen Schweizer Paß beantragen. Ein weißes Kreuz
auf rotem Grund wird zum Symbol für das gelobte Land. Die Schweizer
Regisseurin Claudia Lorenz zeigt in Paso Inverso das Wechselbad
der Gefühl, in dem sich ihre Protagonisten bewegen: auf der einen Seite
der Zusammenbruch der ökonomischen Versorgungsstruktur in einem Land,
der eine breite Mittelschicht trifft und mit dem Verlust von Geborgenheit
und Sicherheit einhergeht. Auf der anderen Seite zieht die in Argentinien
aufgewachsene Regisseurin die steifen Angestellen des Konsulats vor die Kamera,
die über die positiven Seiten der Schweiz referieren.
Vom vermeintlichen Paradies, für das man Opfer bringen muß,
weiß auch der Dokumentarfilm De lautre côté
von der feministischen Filmemacherin Chantal Akerman zu berichten. Entlang
der mexikanisch-amerikanischen Grenzregion filmte sie die Ängste der
Menschen auf beiden Seiten. Mit geradem Blick in die Kamera erzählen
MexikanerInnen von dem Verlust ihrer Angehörigen beim illegalen
Grenzübertritt. Wir kommen aus dem Nichts und wir gehen ins
Nichts, trägt ein Mexikaner als Sprachrohr für eine Gruppe
von Mexikanern vor, die Chantal Akerman um einen Tisch im Restaurant versammelt.
Einer wischt sich die Tränen der Verzweiflung aus den Augen. Auf der
anderen Seite der Grenze sorgen sich gut situierte Amerikaner um ihre Sicherheit
und ein Mann sagt mit Entschlossenheit in der Stimme, daß er nicht
zögern würde, sein Gewehr zu benutzen. Immer wieder filmt Chantal
Akerman die Grenze. Endloser stabiler Wellblechzaun, Stacheldraht und grelles
Scheinwerferlicht in der Nacht. Wie eine Karawane von weißen Gespenstern
bewegt sich eine Gruppe von Mexikanern im Nachtsichtgerät der Polizei
über die Grenze - eine lange Reihe im Gänsemarsch. In einer Einstellung
fegt ein Sandsturm durch die öde Wüstenlandschaft, bringt ein in
den Boden gerammtes Schild zum Wackeln: Dead End steht darauf.
An den Dokumentarfilm Nobody's Business von Alain Berliner
erinnert Our Burmese Day von Lindsey Merrison. Die Mutter der
Regisseurin weigert sich hartnäckig zuzugeben, daß sie nicht in
England, sondern in Burma geboren wurde und dort 17 Jahre ihres Lebens
verbrachte. Zusammen mit ihrer Tochter und ihrem Bruder Bill kehrt Salle
Merrison das erste Mal in ihre alte Heimat zurück - begleitet von der
Kamera der Tochter Lindsey, die Fassungslosigkeit, Rührung und Freude
über das Wiedererkennen sowie die immer wiederkehrende
Verdrängunstiraden der Mutter aufzeichnet.
Ein Ausschnitt von einem Tag, der mit dem Gefühl der Schizophrenie
schließt. Da flackert das Elend der halben Welt über die Leinwand,
und der Konsument sitzt, schweigt - ja, und was - genießt?
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