Zum zehnten Mal bot das Freiburger Film Forum Ende Mai Perspektiven auf
fremde Kulturen. Im krisenhaften Spektrum zwischen sich auflösender
Tradition und unsicherer Moderne oszillierten viele der 38 filmischen
Beiträge aus Afrika, Amerika, Asien und Ozeanien. Einblicke in
indigenous filmmaking gab ein unabhängiges Medienprojekt von
Inuits aus Kanada.
Ein Fotograf reist in einem Camping-Bus durch Indien. Im Gepäck ein
portables Fotostudio. Vor den Gebäuden in der Provinz rollt er eine
marmorierte Leinwand aus, vor der Menschen posieren. Ein Ehepaar, sie im
traditionellen, farbenfrohen Sari, er im dunklen Anzug, schaut mit ernstem
Blick in das Auge der Kamera. In anderen Szenen rücken Statussymbole
mit ins Bild: ein Motorrad, ein elegant geschwungener Korbsessel. Eine Gruppe
junger Inderinnen kommuniziert kichernd und gestikulierend mit dem Fotografen.
Eine von ihnen will den hellroten Schleier nicht lüften. Der
Schwarzweißabzug dokumentiert später ein schüchternes
Lächeln zwischen dünnen Stoffbahnen.
Der französische Fotograf Bruno Suet reist in dem Film Darshan,
ein Wanderstudio in Indien von Stéphane Diss durch Rajasthan.
Sein kleines Fotostudio und die Leinwand kreieren einen kontemplativen
Rückzugspunkt in der in grelles Sonnenlicht getauchten Landschaft. Die
in der selbst gewählten Pose Erstarrten blicken in zwei Objektive -
das des Fotografen und des Kameramanns. Die Energie, die sich in der visuellen
Beziehung zwischen den Menschen vor und hinter der Kamera aufbaut, bezeichnen
die Inder als Darshan. Die extreme Reduktion in dem knapp
20-minütigen Film - ein in Szene Setzen, das ohne viele Worte auskommt
und die Protagonisten durch Stilisierung quasi aus dem Bild hebt, als Fotoabzug
und Kamerabild im Moment des Erstarrens - macht den Zuschauer zum Komplizen
in der Dramaturgie.
Zur ethnologischen Vorgehensweise gehört die permanente Reflexion
über die Modi der Materialerhebung wie auch über den beobachtenden
Forscher, resümiert die Ethnologin und Filmemacherin Barbara
Keifenheim in einer Standortbestimmung des ethnologischen Films
(1). Die Reflexion
über die Bilderarbeit in fremden Kulturen, so der Titel
einer der Filmreihen im Freiburger Programm, der als Motto das gesamte Festival
rahmen könnte, war in den moderierten Diskussionen nach den
Vorführungen und auf der Leinwand ein ständiges Thema.
Du sollst dir (k)ein Bild machen. In Guerre sans Images - Algerien,
ich weiß, dass du weißt begibt sich der Schweizer Fotograf
Michael von Graffenried mit dem algerisch-schweizerischen Filmemacher Mohammed
Soudani auf Spurensuche nach Algerien. Der Regisseur verließ sein
Heimatland vor 30 Jahren und lebte seitdem in der Schweiz. Der Fotograf
dokumentierte ab 1991 den Alltag in dem von Gewalt und Terror geprägten
Land und publizierte diese Fotos in dem Bildband Algerien, der unheimliche
Krieg. Mit diesem im Gepäck kehrt er an den Ort seines
Bilderraubs zurück. Michael von Graffenried fotografierte
heimlich mit einer Panoramakamera, deren Sucher nicht auf das
Objekt gerichtet wurde.
Die Reaktionen auf die Schwarzweißfotos reichen von freudigem Zuspruch
bis zur wütenden Ablehnung. Er zeige nur die negativen Seiten, die man
in Europa sehen wolle, wirft ihm ein Mann vor. Ein anderer mag nicht hinschauen,
da er an die Grausamkeiten nicht erinnert werden will. Eine Frau bemängelt
die reduzierte Perspektive des Bilderjägers - die politisch
aktiven, demonstrierenden Frauen kämen bei ihm nicht vor, nur die
verschleierten. Bei aller Kritik, die seine Arbeit in kein günstiges
Licht setzt, zeigt sich von Graffenried bei der Diskussion mit dem Publikum
in Freiburg selbstbewusst. Jeder wolle ihn und seine Fotos für die eigenen
politischen Ansichten instrumentalisieren. Die ausufernde Debatte mit einem
islamischen Fundamentalisten, der die Bilder spärlich bekleideter
algerischer Frauen im Katalog überklebt und sich damit seine eigene
(Bild-)Realität schafft, gibt dem Fotografen am Ende des Films formal
Recht, reduziert die Kontroverse aber auf einen stereotypen Gegensatz.
Die eigene Position in der Fremde reflektiert auch der Ethnologe Stéphane
Breton, der einige Jahre in einem Dorf in Papua Neuguinea verbrachte. Regie,
Kamera, Ton, bei Eux et moi - Ein Fremder bei uns im Urwald
ethnographisch-klassisch alles in einer Hand, lebt Breton inmitten einer
kleinen Siedlung in den Bergen. Er lernt die Sprache, kommt den Menschen,
die er beobachtet und filmt, langsam näher. Er wird zum Händler
von Waren und Mittelpunkt kleiner Intrigen, die, wie er selbstkritisch bemerkt,
mit seiner Einführung des Zahlungsverkehrs begannen. Ein Beispiel für
die Begrenztheit ethnologischer Feldforschung sowie die Problematik der
teilnehmenden Beobachtung - und dabei sehr unterhaltsam.
Als Nicht-Ethnologin und vom ethnographischen Film als Subgenre des
Dokumentarfilms wenig vorbelastete Besucherin befreite man sich auf dem
vorwiegend von Fachpublikum frequentierten Freiburger Film Forum rasch von
dem Vorurteil, dieses Spektrum des nicht-fiktionalen Filmschaffens sei
antiquiert, belehrend und dröge. Das lag einerseits an der sympathischen
Präsentation, andererseits aber auch an den breit gefächerten Themen
und der filmischen Qualität, die an sechs Tagen in Freiburg zu sehen
waren.
Mit Daughter of Danang, dem für einen Oscar
nominierten Film über eine Mutter-Tochter-Wiedervereinigung in Vietnam,
begab sich das Festival in den Mainstream des Dokumentarischen. Für
eine lange Schlange an der Kasse des Kinos im alten Wiehrebahnhof sorgten
auch andere Filme.
Iran, Veiled Appearance vom belgischen Filmemacher Thierry Michel
erhielt viele Vorschusslorbeeren in der Ankündigung, scheiterte jedoch
in seinem Bemühen, die Bedeutung der islamischen Revolution und ihrer
Ideale zu verstehen - und zwar durch die alt bekannten, permanent
wiederholten Bildern fanatischer Iraner in spiritueller Ekstase. Der Unmut
über die nachrevolutionäre Lebenssituation in der jüngeren
Generation - insbesondere bei den Frauen - und der studentische Widerstand
ertranken in der dominanten Bild- und Tonspur des Fanatismus. Da half es
wenig, dass zum Ende des Films eine Gruppe von verschleierten Frauen vom
Hausberg bei Teheran mit dem Fallschirm in die Luft ging. Die Turbulenzen
machen den Spaß beim Fliegen aus, das Statement einer von ihnen
verleitete den Filmemacher zur plakativen politischen Ikonographie sowie
dazu, die Frauen als Hoffnungsträgerinnen einer neuen Perspektive im
Iran auszurufen.
Wie hartnäckig sich gerade Frauen gegen Veränderungen wehren
können und auf Traditionen beharren, zeigte der beim
Britspotting-Festival in Berlin im Mai ausgezeichnete Film The
day I will never forget von der in London geborenen Regisseurin Kim
Longinotto. Der Bericht über weibliche Genitalverstümmelung in
Kenia lief in der Reihe Pushing Boundaries - Wenn Traditionen
brechen. Offiziell ist die grausame Prozedur in Kenia verboten. Die
betroffenen jungen Mädchen können das Recht auf körperliche
Unversehrtheit vor Gericht einklagen. In der Konsequenz verlieren sie die
Unterstützung der Sozialgemeinschaft ihres Dorfes, ihrer Familie. Immer
wieder forschen die engagierten einheimischen Gegnerinnen der Beschneidung
bei den Befürwortern nach Gründen, leisten geduldig
Überzeugungsarbeit. Doch gegen das Mantra der Tradition wirkt ihr
Bemühen wie ein Tropfen auf einen heißen Stein.
Im Nordwesten Kanadas, in dem seit April 1999 unabhängigen Nunavut,
ruft man sich dagegen das sichere Gefüge der Tradition zum Ausgleich
für eine deprimierende Gegenwart ins Gedächtnis. Einen wesentlichen
Teil des Festivals nahm die Dokumentation der unabhängigen
Inuit-Filmproduktion ein. Drei Teile aus der Fernsehserie Nunavut (Our Land),
die in den 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts spielen, zeichneten den Alltag
der Inuits in Nachinszenierungen auf: wie etwa den Bau von Iglus, fischende
und jagende Männer, der Alltag in der Großfamilie. Um vier Filme
aus dem Bereich des traditionellen Geschichtenerzählens, in dessen Rahmen
der auf dem Filmfestival von Cannes ausgezeichnete Atanarjuat - The
Fast Runner entstand, und zwei Filme von Frauen aus einem Videoworkshop
wurde der Blick auf das indigenous filmmaking ergänzt.
Bis auf zwei nahmen alle Produktionen eine rückwärts gewandte
Perspektive ein. Erzählte Atanarjuat - der erste Inuit-Film
mit einem Drehbuch - von einer fast tausend Jahre alten Legende, gingen die
hier präsentierten, in Qualität und Thema an Homemovies erinnernden
Filme nicht ganz so weit in die Vergangenheit zurück. Die Idealisierung
der Inuit als Stereotyp vom großzügigen und immer lachenden
Eskimo, der in niedlichen Felljacken steckt, wird nach Ansicht
von Asen Balikci seit Robert Flahertys Nanook of the North von
1921 und der speziell in Deutschland, Großbritannien und Frankreich
verbreiteten Jugendliteratur reproduziert.
Der Anthropologe Balikci war in Freiburg mit einer von ihm in den 60er-Jahren
als Lehrmaterial für amerikanische Schulen produzierten Eskimo- Serie
vertreten. Er brachte das Dilemma der kulturellen Klischees auf den Punkt:
Sie haben Bambi getötet. Robben und Eisbären jagende
Inuits wollte man an amerikanischen Schulen nicht sehen. Auch das Publikum
im Kino in Freiburg stöhnte des Öfteren ob der getöteten Tiere.
Die Inuit-Filme sollten im Hinblick auf die Konstruktion und Stabilisierung
von Stereotypen gegengelesen werden, forderte Balikci. Für den restaurativ
wirkenden Rückzug auf die gute alte Zeit (die auch eine harte Zeit war,
das spiegeln die Episoden) hatte Marie-Helene Cousineau, eine der
Koordinatorinnen der Videogruppe aus Igloolik und Gast des Festivals, eine
Erklärung: They want to show positive things. Ein Wunsch
nach makelloser Inszenierung, den der Inuit mit dem Inder in der konzentrierten
Pose vor der Leinwand des Fotografen in Rajasthan teilt.
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(1) Barbara Keifenheim: Auf der Suche nach dem
ethnologischen Film. In: Der ethnographische Film: eine Einführung in
Methode und Praxis. Hrsg. von Edmund Ballhaus und Beate Engelbrecht. Berlin:
Reimer, 1995.
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