Ich sing dir ein Lied
Auf dem diesjährigen Filmfest in München (26. Juni bis 3. Juli)
liefen viele Tonspuren parallel. Unter den 197 Filmen aus 35 Ländern
befanden sich etliche Dokus über Sänger und Musikgruppen sowie
einige überraschende Gesangseinlagen in Spielfilmen.
Es begann organisch, sowohl hinsichtlich der Zutaten in der Küche als
auch in Bezug auf die Bildkomposition: In den ersten Sequenzen des
Eröffnungsfilms Das Mädchen mit dem Perlenohrring (Start:
23.9.) von Peter Webber schneidet Scarlett Johansson als Magd Griet
sorgfältig Gemüse - Zwiebeln, Kohl, Rote Bete - und stellt es zu
einem Stilleben in einer Schüssel zusammen. Danach hat die junge Frau
selten Gelegenheit zum freien Arrangement. Für ein Auftragsporträt
des niederländischen Malers Jan Vermeer - in dessen Haus sie als Magd
arbeitet - rückt sie heimlich einen störenden Stuhl aus dem Bild.
Auf seine Nachfrage begründet sie ihre Korrektur damit, dass die abgebildete
Dame durch diesen eingesperrt ausgesehen habe. Der Meister nimmt die Anregung
auf, tilgt den Stuhl aus dem Porträt. Eine Liebesgeschichte,
unerfüllt, zwischen einem berühmten, verheirateten Künstler
(Colin Firth mit ultralangem, ungekämmtem Haar und wildem Blick) und
einer Unschuld aus verarmtem Hause (die Scarlett Johansson mit geschürzten
Lippen und weit aufgerissenen Augen oder gesenktem Kopf gibt). Die Story
ist ein Hirngespinst, Phantasie eines männlichen Autors, der vielleicht
einmal vor dem Porträt der Schönen auf dem Gemälde von Vermeer
stand. An der Finanzierung ist der Filmfond Luxemburg beteiligt, der auch
den in einer Sondervorführung gezeigten Film Der neunte
Tag
(Start: 2.9.) von Volker Schlöndorff unterstützte. In den
Wettbewerb nach Cannes hatte es der Regisseur damit nicht geschafft. In
München verlieh man Schlöndorff den "Bernhard Wicki Filmpreis ,Die
Brücke' - Der Friedenspreis des deutschen Films". Mit ihm wurde Produzent
Jürgen Haase geehrt, der "sieben Jahre um die Realisierung dieses Projekts
kämpfen musste", ist in der Pressemitteilung zu lesen. Ulrich Matthes
spielt einen katholischen Priester im KZ Dachau, der neun Tage "Auszeit"
vom Schrecken bekommt. Diese Absurdität ist ein Versuch der Gestapo
- August Diehl in der Rolle des maßgeblich beteiligten Offiziers -,
den Geistlichen aus Luxemburg während seines KZ-Urlaubs auf ihre Seite
zu ziehen und durch ihn die schriftliche Zustimmung des Bischofs, respektive
der katholischen Kirche des Landes, für ihre Politik zu erlangen. Ein
Ablasshandel, bei dem der Abbé im klassischen Konflikt zwischen Gewissen
und persönlichem Vorteil steht. Zu keiner Minute nimmt man an, dass
er nicht ins KZ zu den anderen inhaftierten Priestern zurückgeht. Der
Bernhard-Wicki-Preis definiert sich als Würdigung von
"künstlerische(n) Arbeiten, die Brücken schlagen, wo andere
Gräben aufreißen. Er soll wegweisend für junge Künstler
sein, sich mehr an Filmen, die sich durch Inhalte und filmische Kraft
auszeichnen, zu orientieren, als an Effekten und Marketing" (Pressemitteilung).
Gut gemeint. An diesem pädagogischen Zeigefinger krankt der Film von
Schlöndorff. Er ist zweifelsfrei gelungen besetzt, berührt aber
trotz drastischer Bilder - abgefrorene Zehen, geschwollene Füße,
eingeschlagene Köpfe, Menschen am Kreuz - wenig. In der im
schwarzweißen Raster angelegten Gegenüberstellung des diabolischen
Offiziers und des schwachen, aber aufrechten Priesters gibt es keinerlei
Nuance ins Grau, die Mitgefühl spenden könnte.
Spinnt man das Bild von parallelen Tonspuren, die sich über das Festival
an der Isar legten, weiter, fällt einem spontan der neue
Geschäftsführer ein, der in einem Interview mit der Filmzeitschrift
epd die Zusammenstellung des Programms als "etwas entfernt Missionarisches"
bezeichnete, "so wie man früher als Teenager seine Lieblingsmusik für
Freundinnen und Freunde auf Kassetten zusammengemixt hat". Nach 21 Jahren
hat Eberhard Hauff im letzten Jahr - wohl nicht ganz freiwillig - das Zepter
an den ehemaligen Leiter der Filmabteilung des Goethe-Instituts übergeben.
So ausdauernd wie die alte Garde internationaler Festivalleiter haften wohl
sonst nur Mitglieder des Politbüros an ihrem Stuhl. Unter dem neuen
Geschäftsführer Andreas Ströhl sollte ein frischer Wind an
der Isar wehen. Daraus wurde in diesem ersten Jahr immerhin eine Brise: Die
Sektion "Deutsche Fernsehfilme" entrümpelte, das junge asiatische Kino
stärkte man mit eigenem Programm. Die erst vor zwei Jahren etablierte
Reihe "Video Art & Experimental Film" entfiel. Filme mit diesem Zuschnitt
sollten im Programm aufgehen. In diesem Jahr war davon wenig zu entdecken.
In der Außendarstellung veränderte sich ebenfalls einiges: So
verzichtete man auf ein Motto und den Filmkuss, der seit 1994 die Plakate
zierte. Leider gab das Festival zu Gunsten der Logistik und der Schaffung
einer so genannten Isar-Kinomeile einige schöne Spielstätten auf,
quetschte die Zuschauer stattdessen z.B. in ein Kastenkino, in dem sowohl
das Atmen als auch das Lesen der Untertitel zum Abenteuer wurde.
Über die Geschichte der Münchner Kinos von 1896 bis 1945 informierte
wie zum Ausgleich für diese abendliche Pein die Ausstellung "Für
ein Zehnerl ins Paradies" im Gasteig. Die "Kirchen der amüsanten Sensation"
sahen früher wie Burgen oder Schlösser aus, in der Innenausstattung
farblich in Hellrot oder -Blau gehalten, mit viel Silber und Gold verziert.
Einer der ältesten "Lichtspielpaläste" in München - von 1907
- sind die früheren "Gabriel-Lichtspiele", heute "Neues
Gabriel-Filmtheater". Auch das "Filmtheater am Sendlinger Tor", bis zum letzten
Jahr eine Spielstätten des Festivals, gehörte zu den "architektonischen
Schmuckkästen" des letzten Jahrhunderts. Nachdem die Kinos in den 30er
Jahren zur Propagandaschmiede der Nazis wurden (1939: 78 Kinos), gab es nach
1945 durch Kriegsschäden und ökonomisch begründete
Schließungen noch 16 Kinos in der Isarmetropole. Die von der Hochschule
für Fernsehen und Film konzipierte Ausstellung ergänzt ein Buch*.
Zurück zu den Filmen: München zeigte im Internationalen Programm
und bei den American Independents in deutscher Erstaufführung, was die
internationale Festivalwelt in diesem und dem letzten Jahr zu bieten hatte,
und das waren vor allem gut gemachte, spannende Dokumentar- und Spielfilme
mit Realitätsbezug oder -Verlust. Ein Beispiel für den engagierten
politischen Dokumentarfilm war Salvador Allende von Patricio Guzmán.
Die Grenzen der klassischen Interviewsituation zum Dokudrama überschritten
Filme wie The Fog of War oder Control Room. Die amerikanische
Regierungspolitik fand auch in München keinen Fan-Club, und auf der
Welle des erfolgreichen Demagogen Michael Moore schwimmen Dokus wie
Super Size Me von Morgan
Spurlock (Start: 15.7.) 30 Tage lang ernährte sich der Regisseur
ausschließlich von Fastfood und dokumentiert die Folgen für Libido
und Körpergefühl. Ein Plädoyer für den Konsum von Kaffee
in Verbindung mit Zigaretten war der Spielfilm
Coffee &
Cigarettes von Indie-Star Jim Jarmusch. Wer danach aus dem Kino kam
und sich keine anzünden wollte, war nie suchtgefährdet. In dem
Beitrag von Adam Goldberg I love your work mit Franka Potente und
Giovanni Ribisi als amerikanisches Künstlerehepaar fühlte man sich
wie auf einer Achterbahnfahrt an den Wagenrand bzw. zwischen
den
französischen Spielfilm "Meine Frau, die Schauspielerin" und den
amerikanischen Film "Vanilla Sky" gepresst. Viele Filmstars - Christina Ricci,
Elvis Costello, Vince Vaughn - und bekannte Gesichter aus Fernsehserien wie
"Dawson's Creek" und "General Hospital" tauchen in den Alpträumen des
von Ribisi gespielten Filmstars auf, der unter der Berühmtheit seiner
Frau leidet und zudem meint, von Stalkern heimgesucht zu werden. Am Ende
verlor ich ob der ständig wechselnden Erzählebenen leider den Faden.
Aber dass Franka Potente in einem Duett singt, daran erinnere ich mich noch.
Die französische Filmreihe glänzte mit bekannten Namen - Godard,
Rivette, Resnais -, leichten Freizeitfilmchen wie Les Sentiments,
der den Seitensprung mit einem munteren Chor begleitete, oder harter Kost
wie in Ma Mère mit Isabelle Huppert als ihren Sohn
verführende Mama. Eine Überraschung waren zwei spanische Filme:
In the City von Cesc Gay, der die Geschichten von acht Freunden
verschränkt und in Melancholie enden lässt, als eine der verheirateten
Frauen durch die Überraschungsparty zu ihrem Geburtstag von ihrem Coming-out
und dem Verlassen von Partner und Sohn abgehalten wird. Gewalt in der Ehe
und die Schwierigkeit, den gewalttätigen Partner zu verlassen, war Thema
von Take my Eyes von Iciar Bollain.
Das "Herzstück" des Festivals, die Reihe Neue Deutsche Kinofilme (15),
dieses Jahr zum ersten Mal zahlenmäßig den Deutschen Fernsehfilmen
(13) überlegen, zeichnete sich durch treffsichere Titelwahl aus - wie
für die Kassettenhülle mit der Lieblingsmusik von Andreas Ströhl
geschaffen: von selbstreferentiell (Bin ich sexy?), über imperativ
(Hab mich lieb, Such mich nicht), agitatorisch (Die fetten Jahre
sind vorbei), partnerschaftlich (Frau fährt, Mann schläft,
Meine Frau, meine Freunde und ich), poetisch (Sommersturm, In die
Hand geschrieben, Farland) bis urban (Marseille). Nachdem der
erste Versuch, sich in diesem Jahr wacker dem deutschen Film zu nähern,
an der Technik gescheitert war - bei der Erstaufführung von Such
mich nicht vertauschte man die Filmrollen, zeigte den dritten vor den
zweiten Teil, der verzweifelte Regisseur brach die Vorstellung seines
Debütfilms ab -, kam auf der persönlichen Präferenzliste nur
noch "Marseille" von
Angela Schanelec vor, deren
Präsenz dieses Jahr in Cannes durch die Hysterie über den ersten
deutschen Film seit Urzeiten im Wettbewerb ("Die fetten Jahre sind vorbei")
unterging. Location, Drehort hat in ihren Filmen eigene Bedeutung, ist nicht
Kulisse, kein Rahmen in der Ausstattung, in welchem die Personen agieren,
sondern notwendige Form. Sophie geht nach Marseille, tauscht ihre Wohnung
in Berlin mit einer Frau in Marseille.
Berlin ist ritualisierter Alltag, Marseille urbanes Nomadentum.
Ballastfrei. Grenzenlos. Sie lässt sich treiben. Geht spazieren.
Fotografiert auf der Straße. (Leider hatte ich vorab das Presseheft
gelesen, in dem der Plot in der allerersten Interviewfrage angesprochen wird.
Ärgerlich. Nach zehn Minuten im Kino hatte ich ihn bereits vergessen.)
Der Film braucht keinen Plot, kann ihn aber haben. Und er kommt jetzt. Das
Ende, der Überfall, den man nicht sieht, von dem nur im Verhör
durch den Polizisten erzählt wird, das Umkleiden auf der Wache, das
zitronengelbe Kittel-Kleid ist eine Katharsis (bizarr: der männliche
Täter zieht sich aus, zwingt sein weibliches Opfer, ihm nachzutun, die
Kleider mit ihm zu tauschen. In der eigenen Phantasie: der Schock, die Angst,
ihre Nacktheit auf der Straße, der fremde Geruch, Schweiß, der
Stoff, das Material. Schutzlos, beschmutzt). Zum Schluss, am Meer, am Strand,
in der untergehenden Sonne, im pinkfarbenen Licht, ist Sophie schemenhaft
auszumachen, winzig. Da sieht man das Meer der Hafenstadt Marseille zum ersten
Mal. Gibt es eigentlich immer ein Schwimmbad in den Filmen? Die Szene am
Beckenrand, wieder in Berlin, erinnert an Rohmer. Die Nebenlinie mit den
Fotoaufnahmen der Arbeiterinnen verwirrt. Wie weit ist man im Alltag fremd
in seinem Körper, wird sich vertrauter, wenn man Teile der Uniform,
die Haare, löst? Sophie ist allein. Ihre Freunde, das Paar, sind allein.
Bei Jim Jarmusch bekommt man Lust zu rauchen. Bei Angela Schanelec, einsam
zu sein. Hier stoppt die Kassette aus München. Das Lied ist vorbei.
*Monika Lerch-Stumpf (Hg.): Für ein Zehnerl ins Paradies - Münchner
Kinogeschichte 1896 bis 1945. München/Hamburg, Dölling und Galitz
Verlag, ca. 29,80 Euro
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