Vancouver
KICK THE MOON
Kim Sang-Jin, Südkorea
Die vom britischen Kritiker Tony Rayns zusammengestellte Auswahl
asiatischer Filme war ausgesprochen stark. Der beste von den Filmen, die
ich hier zum ersten Mal sah, war Kim Sang-Jins KICK THE MOON, eine Studie
in fröhlichem Exzess. Wie in ATTACK THE GAS STATION erweist sich Kim
als Meister der Inszenierung brutaler Schlägereien, die er bis zum komischen
Übermaß treibt. Zwischen den Kämpfen, mit denen KICK THE
MOON beginnt und endet, gibt es eine berührende Dreiecks-Liebesgeschichte
zwischen einem toughen Lehrer, einem nerdigen Gangsterboss und der
Nudelladenbesitzerin, in die sie sich beide verliebt haben. Im Kampf um die
Kontrolle über vier Schüler des Lehrers entwickelt sich zwischen
ihm und dem Gangster eine symbiotische, beinahe-homoerotische Beziehung.
Wie ATTACK THE GAS STATION funktioniert KISS THE MOON sowohl als raue
Komödie wie auch als Allegorie mit der Botschaft, dass die koreanische
Gesellschaft ein Weitpinkelwettbewerb von Tyrannen ist. In diesem Fall gewinnt
Kim. Der beste koreanische Film von den vielen, die ich dieses Jahr gesehen
habe.
THE JANG SUN-WOO VARIATIONS
Tony Rayns, GB
Rayns selbst stellte einen sehenswerten Dokumentarfilm vor. THE JANG
SUN-WOO VARIATIONS ist ein bewundernswert gründliches Porträt des
koreanischen Regisseurs. Der Film, mit seiner riesigen Zahl von Interviews
(mit Kritikern und Filmemachern bis zu einem buddhistischen Mönch und
Passanten, die LIES gesehen haben), erweist sich seines Titels würdig,
und erstellt ein Porträt des Mannes und seiner Filme, das beider
grundsätzliche Widersprüchlichkeit herauskehrt. THE JANG SUN-WOO
VARIATIONS ist selbst ein dialektischer Film und füllt die Leinwand
mit CD-Rom-artigen Kästchen. Der Film untersucht Jangs Einstellungen
zu Sex (darunter eine ausführliche Diskussion der Vergewaltigungsszenen
in A PETAL UND TIMELESS, BOTTOMLESS BAD MOVIE), zu Politik und Religion.
Er ist ein exzellentes Beispiel von Filmkritik im Medium des Films, viel
mehr als nur das übliche DVD-Supplement.
Japan
VISITOR Q
Takashi Miike, Japan
Das Festival zeigte drei Filme des sehr fleißigen Takashi Miike:
DEAD OR ALIVE 2, ICHI THE KILLER und VISITOR Q. Leider konnte ich nur VISITOR
Q sehen. Hätte ich nicht AUDITION gekannt, ich stünde dem Hype
um Miike verständnislos gegenüber, aber ein Regisseur, der drei
oder vier Filme im Jahr macht, muss hin und wieder Scheiße bauen. VISITOR
Q ist eine witzlose Übung in schlechtem Geschmack und bezieht sich auf
TEOREMA, wenn er einen mysteriösen Fremden - mit einem Hang dazu, Menschen
mit Steinbrocken auf den Kopf zu schlagen - zeigt, der eine Famile durch
transgressive Aktionen befreit. Das reicht vom Harmlosen - Laktation und
weibliche Ejakulation - bis zum extrem Widerlichen. Mehr soll nicht gesagt
werden, als dass Heroin und Nekrophilie beim Aufrechterhalten der familialen
Harmonie ihre Rolle spielen. Als Satire kann der Film nicht überzeugen.
Als Fil..., genauer gesagt als Video war er unglaublich hässlich, voller
ausgebluteter Farben und so körnig, dass ich mich gefragt habe, ob es
an meiner Brille lag.
China
THE ORPHAN OF ANYAN
Wang Chao, China
Als Adaption eines Romans seines Regisseurs ist der viel gelobte THE
ORPHAN OF ANYANG so etwas wie ein typischer chinesischer Film der 6. Generation,
jede Menge Master Shots, wenig Kamerabewegung, sozial marginalisierte Charaktere
(Gangster, ein auf der Straße arbeitender Fahrrad-Reparateur, eine
Nutte) und depressive Stimmung inklusive. Wang bietet eine ziemlich gut gemachte
Version, aber wer schon auf vielen Filmfestivals war, hat genau dasselbe
Material schon gesehen. Ich wurde die merkwürdige Idee nicht los, dass
der Film so etwas wie das chinesische Äquivalent zu einem amerikanischen
Film wie THE SCORE ist: eine gut gemachte, aber alles andere als aufregende
Genre-Übung.
SEAFOOD
Zhu Wen, Hongkong
Ich bin da wahrscheinlich der einzige, aber SEAFOOD hat mir besser
gefallen. Dessen einziger Vorzug ist, dass er ganz und gar unvorhersehbar
ist. Meine Meinung zu dem Film hat sich alle paar Minuten geändert und
erst am Ende - als mir schließlich klar wurde, worauf der Film hinauswill
- habe ich mich entschlossen, ihn zu mögen. Er beginnt als eine Übung
in - an taiwanesische Beispiele erinnernder - Entfremdung und ist in eine
Art Dogma-Stil gedreht, verwandelt sich dann in eine minimalistische romantische
Komödie zwischen einer selbstmordgefährdeten Prostituierten und
dem genauso abgefuckten Cop, der glaubt, er könne sie retten. Dann
vergewaltigt er sie, Schluss mit der Komödie. Auf totalen Nihilismus
will sich der Film jedoch auch nicht einlassen und bewegt sich letztlich
in Richtung Optimismus. In einem Punkt helfen die Nebenwirkungen der
Video-Herkunft dem Film sogar: die ausgebleichten Farben passen bestens zum
Schauplatz, einem Feriendomizil mitten im Winter.
New York
WARM WATER UNDER A RED BRIDGE
Shohei Imamura, Japan
Vor drei Jahren hat Imamura erklärt, dass DR. AKAGI sein letzter
Film sein würde. Obwohl er inzwischen 75 Jahre alt ist, hat der Ruhestand
nicht lange gedauert. WARM WATER UNDER A RED BRIGGE ist sein vielleicht reifster
Film: das entspannte Porträt einer kleinen Stadt, in dem es dennoch
Platz gibt für sexuelle Perversion - der Titel bezieht sich auf die
weibliche Heldin Saeko (Misa Shimizu) und ihre Vorliebe, während des
Sex Wasser hervorzusprudeln - und schrulligen Humor. Yosuke (der
allgegenwärtige Koji Yakusho) ist ein arbeitsloser Angestellter, der
das Fischerdorf besucht, in dem sie lebt, nachdem ihm ein Freund erzählt
hat, er habe dort eine gestohlene Goldstatue versteckt. In dem Dorf verliebt
er sich in Saeko, die er beim Ladendiebstahl im Supermarkt erwischt, und
er bekommt einen Job als Fischer. Vieles davon hat man schon in Imamuras
THE EEL gesehen, das zentrale Thema des Films jedoch ist ein anderes: jener
drehte sich um den Versuch eines Mannes, seine brutalen Handlungen
wiedergutzumachen, bei diesem geht es um den Kampf einer Frau, die ihre
Selbstverachtung überwinden will. Keiner der bisherigen Filme des Regisseurs
schien so sanft: WARM WATER UNDER A RED BRIDGE hat nicht die anarchische
Energie seines Werks aus den sechziger Jahren, nicht den Fatalismus von THE
BALLAD OF NARAYAMA und BLACK RAIN, und gestattet sich nur einen einzigen
Ausbruch jener Gewalt, die THE EEL und DR. AKAGI durchdrang. Auch seine Regie
ist vergleichsweise zurückhaltend, kaum einmal scheint die Action über
den Rahmen der Bilder hinauszudrängen. Gelegentlich ist er allzu eigenartig,
etwa in der Darstellung eines afrikanischen Läufers in Auseinandersetzung
mit den rassistischen Fischern, aber alles in allem hat man den späten
Imamura noch nicht besser gesehen.
ALL ABOUT LILY CHOU-CHOU
Shunji Iwai, Japan
Die ersten Minuten von ALL ABOUT LILY CHOU_CHOU verbinden wunderbare
Kiarostami-artige Bilder eines Jungen auf dem Land, der in die Musik aus
seinem Discman vertieft ist mit Text-Zwischentiteln und machen einem Hoffnungen,
die der Rest des Films nie erfüllen kann. Iwai erweist sich als talentierter
Bildermacher, mit einem guten Auge und Ohr für die Form von Trost, die
Kinder in der Musik finden können (wenngleich mich die titelgebende
Sängerin, eine Debussy-inspirierte Elfe, deren Musik mit Meditationen
zum Thema "Äther" verbunden ist, tödlich gelangweilt hat) - aber
er ist kein besonders guter Geschichtenerzähler. Subplots und weitere
Charaktere fügt er zur eigentlichen Geschichte, das Ergebnis ist aber
nur ambitiös und prätentiös. Gelegentlich will sich der Film
mit der gesamten japanischen Jugendkultur auseinandersetzen - die er als
eine Abfolge von Hausarbeiten und kleinen-bis-tödlichen Verbrechen
betrachtet -, dazu kommt das Internet. Auch bei einer Länge von zwei
einhalb Stunden ächzt er unter dieser Last. So viel die Figuren auch
über Lily und den Äther daherreden, mehr als vager Mystizismus
kommt nicht dabei heraus, während die Jugendliche-und-ihre- Probleme
herzlich unoriginell bleiben. Manche der Seltsamkeiten mag daher rühren,
dass der Film als bald aufgegebener Roman begonnen hat, den Iwai dann auf
eine Website stellte, so dass das endgültige Drehbuch die Botschaften
von Lesern und Teilnehmern umfasst. Wie bei
TIME CODE ist die Idee von interaktiver
Kunst für gewöhnlich reizvoller als ihre Umsetzung.
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Übersetzung: Ekkehard Knörer |