Timecode bewegt sich an den Grenzen der Erzählform
Kino. Ein klarerweise experimenteller Film, aufgebaut aus zwei vergleichsweise
kontingenten Prämissen. Prämisse 1: Timecode ist ein Film
ohne einen einzigen Schnitt, gedreht in Realzeit, eingefangen von einer Digital
Video Kamera. Prämisse 2: Erzählt wird die Geschichte, werden die
Geschichten, in vier Strängen - und das ist nur so zu bewältigen,
dass der Schnitt, der diese in einem Standardfilm (dem so freilich die Realzeit
immer noch nicht ausgetrieben wäre) verflechten würde, als
Splitscreen-Kreuz auf die Leinwand selbst verlegt wird. Vier Stränge
in vier Kästen, das Editing, das die Augen und Ohren des Betrachters
natürlich doch vornehmen müssen, ist aufgeweicht auf eine
Auswahlmöglichkeit. Noch einmal, könnte man sagen: denn auch das
gewöhnliche Kinobild ist ja nur begrenzt zur zwingenden
Aufmerksamkeitssteuerung fähig. Dem Blick bleiben auch da,
selbstverständlich, Auswege.
Gesteuert wird die Aufmerksamkeit in Time Code sehr wohl: durch
natürliche Attraktoren melodramatischer Handlung, die in einem der vier
Kästen überwiegt, vor allem aber durch die Tonspur, der man meist
folgen wird, die sich, nicht immer, aber doch die meiste Zeit, auf einen
Ausschnitt konzentriert. Interessant sind die Momente, in denen eine
fünfte, alles zusammen führende oder eher noch: balancierende Ebene,
klare Gestalt gewinnt: eine extradiegetische Synthesis in Form hoch gefahrener,
keinem Strang eindeutig zuordenbarer Musik. Das sind Ruhepausen, Augenblicke
der Kontemplation im Vergleich zu den sonst geforderten Anstrengungen der
Konzentration, der Auswahl, der Beobachtung der von der Aufmerksamkeit
abgeschatteten Kästen aus den Augenwinkeln.
Die Prämissen der Radikalisierung zweier Grenzmöglichkeiten
des Kinos (Realzeit, Splitscreen) führen zu Überschüssen
über die Standardereignisse des Films. Zu ungewohnten Bewegungen der
Form-Erfahrung Film. Das sind: Momente des Kreuzens. Personen geraten von
einem Bild ins andere, tauchen auf, wo man sie nicht erwartet hat, werden
doppelt eingefangen. Interessanter Effekt dabei: Hier, aber gar nicht
durchgehend, abstrahieren sich die Figuren fast vollständig vom
Charakter", werden Variablen in einem Vexierspiel, bewegen sich auf
einer Meta-Ebene der Form, fast losgelöst vom Inhalt. Eine
ungewöhnliche Zeit-Erfahrung manifestiert sich in wiederholten Momenten
eines Erdbebens. Zwar diegetisch nicht gänzlich unwahrscheinlich, vor
allem aber: eine Erschütterung des Blicks als Hinweis auf die
Gleich-Zeitigkeit der vier Stränge, also wiederum: ein Moment der
Synthesis.
Der Schwachpunkt des Films ist die Handlung. Dass sich das Geschehen
auf mehrere Melodramen hin zuspitzt, Schockmomente also, Effekte, die hohe
Aufmerksamkeitsattraktoren sind, das ist vielleicht notwendig. Völlig
überflüssig, weil im Versuch der inhaltlichen Verdopplung des formalen
Experiments in der theoretischen Schärfe stets eine Reflexionsebene
unter diesem selbst liegend, ist die Ansiedlung der Handlung im Hollywood-
und Filmmilieu. Es kommt so zu Momenten der Überdeutlichkeit, die sich
noch steigern, wenn eine Prophetin des DV-Experiments auftritt, einen Film
à la Timecode mit viel theoretischer Begleitmusik (von Eisenstein
bis Debord) verficht. Das ist bestenfalls nett als Karikatur möglichen
Theoriegeschwurbels, zu dem Timecode Anlass geben könnte. Mehr
nicht. Und mehr inhaltliche Strenge, ein formaler Minimalismus auch auf dieser
Ebene, hätte Timecode von einem interessanten zu einem faszinierenden
Experiment machen können.
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