Sie begleiten ihn überall hin. Sie sind da, wenn er in seinem
Bett liegt, wenn er zur Toilette geht oder zur Arbeit. Das Gewirr von Stimmen
kriegt Lukas (Daniel Brühl aus Nichts
bereuen) einfach nicht aus seinem Kopf. Deshalb ist er auf der Suche
nach dem weißen Rauschen in dem gleichnamigen, beeindruckenden
Regiedebüt von Hans Weingartner.
Lukas ist der junge Mann, der mit großen, staunenden Augen aus
der Provinz in die große Stadt kommt und hofft: Jetzt geht das Leben
los. Er zieht in die WG mit seiner Schwester Katie (Anabelle Lachatte) und
ihrem Freizeit-Kiffer-Freund Jochen (Patrick Joswig), will Partys feiern,
Mädchen kennenlernen und anfangen zu studieren. Doch plötzlich,
nach einem Drogentrip mit Jochen, hört er Stimmen und hat er erste Symptome
von paranoider Schizophrenie, die unglaublicherweise in Deutschland ebenso
häufig vorkommt wie Diabetes. Lukas weiß es zu diesem Zeitpunkt
natürlich noch nicht und versucht verzweifelt, den Ursprung der Stimmen
zu ergründen. Er entwickelt einen Plan zur Abwehr, führt Protokolle,
baut einen Apparat zur Stimmenanalyse und stürzt er immer weiter ab.
Hans Weingartners Das weiße Rauschen ist einer dieser
Filme, bei denen die Grenzen von Realität und Fiktion verwischen und
das bringt ihn, nicht nur allein durch den radikalen Einsatz der digitalen
Videokamera, in die Nähe der dänischen Dogma-Filme. Durch das mit
Improvisationen durchmischte Spiel der Darsteller ist auch kaum mehr auszumachen,
ob man reale Personen oder fiktive Figuren beobachtet. Die äußerst
begabten Jungdarsteller leben ihre Rollen, verschmelzen mit ihnen. Das verleiht
Das weiße Rauschen einerseits einen dokumentarischen Charakter,
macht ihn zugleich sehr intensiv.
Der grauenvollen Erfahrung einer paranoiden Schizophrenie liefert
Weingartner seine Zuschauer ganz schonungslos aus, bringt einem die Krankheit
so nah, wie man sie eigentlich gar nicht erleben möchte. Besonders sein
Umgang mit der Tonspur ist radikal und brachial. Lukas, ebenso wie die Zuschauer,
hören viele Stimmen, die gleichzeitig wüste Beschimpfungen
pöbeln, Befehle geben und schließlich sogar zum Selbstmord auffordern,
zum Auslöschen Lukas armseliger Existenz. Unaufhörlich
flüstern, rufen und reden ihm die Stimmen zu. Das sind die herausragenden
Momente dieses bedrückenden Filmdebüts, das sich eigentlich keinem
Genre wirklich zuordnen läßt, aber am ehesten noch das Label
Psychothriller verträgt.
Über weite Strecken geben die Krankheit und ihre Symptome die
Dramaturgie des Films vor. Zunächst der Ausbruch der Schizophrenie,
dann ein radikaler Absturz aus der Realität, schließlich Psychiatrie,
Psychopharmaka und die Entlassung, die dann in einen schlimmen Rückfall
und einen erfolglosen Selbstmordversuch mündet.
Doch in der letzten halben Stunde widersetzt sich Weingartner diesen
pathologischen Vorgaben, die vielleicht in fast jedem konventionellen
Schizophrenie-Thriller unausweichlich gewesen wären. Er gibt Lukas die
Chance eines Ausbruchs aus seinem Leben und die Möglichkeit der Suche
nach einer einem anderen und einer Art Erlösung. Er wird nach einem
Sprung von der Rheinbrücke von zwei Hippies gerettet, die ihn mit ihrer
Kommune in zwei Hanomags auf einen Trip nach Spanien mitnehmen. Leider ist
das, was folgt, über weite Strecken öde Hippie-Romantik mit Lagerfeuer
und so und die dürfte manchen Zuschauern ebenso schnell auf die Nerven
gehen wie Lukas. Weingartner schafft es so allerdings, Lukas in letzter
Konsequenz nicht in der Psychiatrie oder durch Selbstmord auf dem Friedhof
landen zu lassen.
In der letzten Szene, als er wieder allein in Spanien am Strand des
Atlantiks hockt und den Wellen des Ozeans zuhört, glaubt er, das weiße
Rauschen, das soetwas wie Gott oder die höchste Stufe der Erleuchtung
sein muss, gefunden zu haben. Wer das weiße Rauschen sieht, der
wird sofort wahnsinnig. Außer wenn er schon wahnsinnig ist. Dann wird
er normal, glaubt Lukas. Dann ist der Film vorbei und man wird wieder
in die Wirklichkeit entlassen - mit einem offenem Ende, von dem jeder eigentlich
weiß, dass es keines ist.
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