Schwerpunkt Hong Kong: Billy Tang: Dr. Lamb (Hong Kong 1992)

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Billy Tang: Dr. Lamb (Hong Kong 1992)

Foto: Archiv Triad AgencyRegie: Billy Tang In-shing

Darsteller: Simon Yam Tat-wah, Danny Li Sau-yin, Kent Cheng Jut-tze, Emily Kwan Pao-wai, Lau Siu-ming, Perrie Lai Hoi-shan u.a.

 

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Billy Tang: Dr. Lamb (Hong Kong 1992)
Text von -MAERZ-

zum Hong-Kong-Schwerpunkt

In seinen guten Momenten ist Billy Tang In-shing einer der gnadenlosesten und genialsten Exploitationists der Hong Konger Filmszene. Er zeigt nicht die geringste Scheu, bösartig über die Stränge zu schlagen. Fragen, die sich im Zusammenhang mit moralisch-ethischer Vertretbarkeit seiner Arbeiten stellen, sind für ihn Kinkerlitzchen. Genau dafür lieben ihn die Sicko-Kumpels der Videohöhlen aller Herren Länder. In Fragen der politischen Unkorrektheit, des kalkulierten Tabubruchs und Skandals als ausbeutbare Spektakel hat sich in Hong Kong höchstens noch Herman Yau Lai-to so weit aus dem Fenster gelehnt wie er. Über seinen besten Filmen lasten überschwere, süßlich-stechende Aromen wie von verrottenden Eingeweideklumpen über denen Irrlichter aus selbstentzündlichen Verwesungsgasen tanzen. Leider hat Tang die für ihn produktivste Zeit der schwersten sozialethischen Desorientierung seit einigen Jahren schon hinter sich gelassen. Eine Rückbesinnung scheint äußerst unwahrscheinlich.

Nach den beiden kaum beachtenswerten Actionern DEFECTOR (HK, ‘89) und DEADLY DESIRE (HK, ‘91) gelingt Tang in eigentümlicher Form der Durchbruch (ob nach oben oder nach unten liegt im moralischen Ermessen und der psychologischen Borderline-Tauglichkeit des Zuschauers). DR. LAMB (HK, ‘92) bringt ihm einen massiven Aufmerksamkeitsschub. Aber nicht nur ihm. Die eigentlichen Lorbeeren streicht sein Koregisseur Danny Li Sau-yin (gleichzeitig auch einer der Hauptdarsteller) ein. Als Produzent des Films kann Li es sich erlauben, Tang nur als Associate Director zu führen (ein zu dieser Zeit recht ungewöhnlicher Titel, der eher aus dem HK-Kino der 50s und 60s bekannt ist und damals in etwa die Funktion des Regieassistenten beschreibt; später in den 90ern liegt der Arbeitsbereich des wieder gebräuchlicher gewordenen Associate Directors irgendwo zwischen dem des Regieassistenten und des Koregisseurs). Es ist aber sehr wahrscheinlich, daß Tang zur Inszenierung mindestens ebensoviel beiträgt wie Li (mit einiger Sicherheit sogar mehr).

Nach dem von Li und Tang hier eher zufällig entworfenen Bauplan einer in HK neuen Gattung von Thrillern handelt es sich bei DR. LAMB um den archetypischen Vertreter und die erste thematisch, ikonografisch und ästhetisch perfekte Ausformulierungen des später berühmt-berüchtigten HK-Noir-Psycho-Splatters, dessen Konzept der filmischen Aufarbeitung authentischer (später auch fiktiver) Kriminalfälle sich im HKer Exploitation-Zirkus für einige Zeit als ausgesprochen tragfähig erweist. Seine genregenealogische Bedeutung ist daher nicht zu unteschätzen.

Als besonders gelungen gelten diese Filme, wenn das Ausmaß der Darstellungen von Sex und Gewalt, Wahnsinn und Tod ins geradezu Aberwitzige aufgeblasen wird. Im Fall von DR. LAMB - der internationale ebenso wie der chinesische Titel, übersetzt „Lamb Doctor“, riechen verdächtig nach Anlehnungsversuchen an Jonathan Demmes Thriller THE SILENCE OF THE LAMBS (USA, ‘91) - handelt es sich um eine spektakuläre Serie von vier nachgewiesenen Morden, die zwischen Februar ‘82 und August ‘83 von dem von schweren sado-masochistischen und nekrophilen Obsessionen verfolgten HKer Taxifahrer Lam Kwo-wan verübt wurden. (Über die tatsächlichen Tatumstände kann man sich u.a. in Kate Whiteheads Sachbuch ‘Hong Kong Murders’, S. 35 ff, informieren.) Für diese Verbrechen wurde Lam zum Tod verurteilt. (Aufgrud des in der ehemaligen Kronkolonie HK bis ‘97 geltenden britischen Rechts wird diese Strafe nicht vollstrekt, sondern automatisch in eine lebenslängliche Gefängnisstrafe umgewandelt.) Sicher dürften die Hongkies sich beim Erscheinen von DR. LAMB (recht publikumswirksam zum zehnten Jahrestag des Beginns der Mordserie) noch gut an den seinerzeit medienwirksam hervorragend aufgearbeiteten echten Fall erinnern. Der Name des Täters wird für den Film von Lam Kwo-wan in Lam Kwo-yu geändert - Wiedererkennung garantiert. Die geschilderten Ereignisse stimmen grundsätzlich mit den tatsächlichen überein.

Bei so viel Detailfreude verwundert die dem Film nachgestellte übliche Schlußfloskel unter dem letzten Bild: „All events, characters [...] is coincidential and unintentional.“ Als Ausgangsmaterial für den Plot greift Tang außerdem auf den von ihm schon früher, als er um die Jahrzehntwende herum bei ATV (nach TVB HKs zweitgrößter Fernsehsender) als Regisseur arbeitete, für die True-Crime-Fernsehreihe „Hong Kong Criminal Archives“ inszenierten TV-Film „Female Butcher“ zurück, in dem damals schon Simon Yam Tat-wah die Rolle des Schlächters übernimmt.

Schön, daß schon der Hobbyfotograf und Amateurfilmer Lam Kwo-wan instinktiv erkannte, wie wichtig die Bilddokumentation seiner Taten zur Authentifizierung des Unvorstellbaren und zur Vervollkommnung seines eigenen neo-archaischen Mythos ist. In kaum einem anderen Film aus HK werden die Verschränkungen zwischen obsessiver Sexualpsychose, hochgradig spekulativem Zuschauer-Voyeurismus und medialer Funktionsweise von (S)Exploitation daher so deutlich wie in dem stark polarisierenden Lichtspiel DR. LAMB. Das entspricht selbstverständlich nicht den Intentionen der Filmmacher, sondern erfolgt durch die thematische Immanenz - zum Glück - ganz von selbst; ist aber durch den vorbewußten Zustand, in dem dies, wie zufällig, geschieht, unverfälschter und weit aussagekräftiger als es die meisten beabsichtigten Durcharbeitungen dieses schwieriegen Komplexes leisten würden. (Genau deshalb ist John McNaughtons Ausnahmefilm HENRY [USA, ‘86] noch immer mit das beste, was bislang hierzu gesagt wurde.)

Die Einarbeitung des zu Zwecken höherer Authentifizierung beliebte Snuff-Mythos drängt sich Tang und Li im Zusammenhang mit ihrer Story förmlich auf und wird von ihnen, sicherlich ohne besonderen Vorbedacht, aufgrund ihrer mangelhaften dramaturgischen Durcharbeitung des Ausgangsstoffs zur Plotverschärfung dankbar angenommen. Ausschnitte der zur eigenen Erbauung auf Video aufgezeichnet (von Tang und Li natürlich nachgestellten) Taten des eitlen und bildgeilen Soziopath Lam sieht man während seiner in Ausführlichkeit beschriebenen Verhöre auf der Polizeidienststelle (hier ganz sicher der Einfluß von Danny Li, der in seinen 90s-Filmen die Schilderung der freudlos-trockenen Polizeiarbeit gerne mit Folterungen zur Geständniserleichterung auflockert und die Untersuchungsbeamten - er selber natürlich immer wieder an deren Spitze - dadurch kaum weniger psychotisch erscheinen als die Verdächtigen mit den ihnen zur Last gelegten Schandtaten). Leider beherrscht weder Li noch Tang den medialen Scherensprung. Große Schwierigkeiten bereitet den beiden, die unterschiedlichen Perspektiven der direkten und der subjektiven Sichtweise logisch voneinander zu trennen. So verwendet man z.B. eine Kamerafahrt, um den Wechsel von der einen zur andern Wahrnehmungsebene (vom TV-Bild zum Kinobild) flüssig zu gestalten. Das sieht hübsch aus, ist aber unsinnig.

Daß man es mit einem reinen, von westlichen Sehgewohnheiten noch relativ unverdorbenen Produkt des nicht zu Unrecht für seinen wilden Synkretismus und seltsamen schwarzen Homor bekannten HK-Kinos zu tun hat, bemerkt man spätestens in jener, bei den Eingeborenen für Witz und gute Laune sorgenden Szene, wenn durch Zufall einem überraschten Untersuchungsbeamten eine einbalsamierte Frauentitte auf den Rücken klatscht und er sie blitzschnell mit einem gelungenen Paß auf dem Rücken einer Kollegin plaziert. So etwas, oder wenn z.B. Anthony Wong Tsau-sang in Herman Yaus THE UNTOLD STORY (HK, ‘93) sich durch seine Opfer metzelt, ist dem feixenden, schenkelklatschenden HKer Kinopublikum noch jedesmal einen kathartischen Lacher wert gewesen. - „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten“ (wie Sigmund Freud es ausdrückte): die stehen hier in einem unbedingt direkten Verhältnis zueinander.

Ähnlich wie verschiedene andere Filme des Subgenres war DR. LAMB in HK im Kino nur zensiert zu sehen. Die ursprünglichen HKer und taiwanesischen Videoveröffentlichungen von DR. LAMB entsprechen dieser um mehrere Minuten gekürzten Schnittfassung. Ein erstes größeres Stück wurde aus der Vorspann-Sequenz, die in Lams Jugend spielt, herausgeschnitten: Eine Szene, in der er seine Eltern beim Vögeln beobachtet. Nicht weiter tragisch. Die erwachende sexuelle Neugier würde wohl auch jeden völlig normalen Teenager sich in ähnlicher Weise verhalten lassen. Zum psychologischen Verständnis trägt sie nichts bei. Dieser und noch einige weitere (unzensierte) Versuche einer Psychologisierung sind so platt und nichtssagend, die beiden Regisseure daran so offensichtlich desinteressiert, daß ihre Alibifunktion sofort auffliegt. Interessanter, zumindest für Bluthunde, ist der nächste große Schnitt von rund vier Minuten: Der Überltäter verliert über seinem ersten Mordopfer völlig die Beherrschug, wabbelt es durch, kreischt wie ein Affe, vollführt einen improvisierten Bondage-Workout mit der Toten, versucht vergblich, sie mit einem Hackmesser zu zerlegen, veranstalt schließlich mit einem hurtig organisierten Freihand-Trennschneider eine kolossale Sauerei. Während der Bearbeitung seines zweiten Opfers fehlen weitere zirka 90 Sekunden: anatomische Studien, Vorbereitung der Sektion, Jaulen über dem Leichnam, Totenöffnung und Brustverunstaltung durch wildes Einstechen, fotografische Dokumentation des Erreichten. Die letzte bedeutende Filmverstümmelung erfolgt bei Lams Bearbeitung des dritten Opfers: Waschen, Schminken, Instellungbringen der Toten zum auf Video festgehaltenen, nekrophilen Tête-à-tête. Rund acht Jahre nach der Erstveröffentlichung erscheint in HK eine vollständig ungeschnittene Fassung des Films.

Mit oder ohne Schnitte: DR. LAMBs Inszenierung bleibt reines Stückwerk. Damit gleicht der Film und das, was ihm auf seinem Weg widerfahren ist, in gewisser Weise den von Lam übel zugerichteten Frauenkadavern. Ein interessantes Phänomen der Selbstähnlichkeit, des sich (auf mehreren medialen Ebenen) vom Kleine ins Große fortsetzenden gleichartigen Strukturaufbaus. Auch das Gesetz der Serie setzt sich mit dem Boom von teilweise extrem sadistischen Nachziehern über die derangierten Sexualpraktiken und blutigen Massaker gestörter Mitbürger auf der Leinwand fort.

Die (bedingt) technische Eleganz in der Schilderung der Gewaltszenen, die so wenig zu den niederen Instinkten paßt, die hierdurch befriedigt werden sollen, ist es, die DR. LAMB (und gelegentlich auch seine Epigonen) interessant macht. Das hinter dem HK-Noir-Psycho-Splatter stehende ästhetische Funktionsprinzip ist grundsätzlich aus den seit den 60er Jahren in Italien entstandenen Giallo-Thrillern und Supernaturals (z.B. jenen Mario Bavas oder Dario Argentos) bekannt - deren Urvater ist natürlich Alfred Hitchcocks PSYCHO (USA, ‘60). (In der westlichen Hemisphäre segnete das Subgenre mit seinen Ablegern Splatter-, Slasher-, Gore-Movie etc. schon in den frühen 80ern das Zeitliche.) Die oft kunsthandwerklich nicht ungeschickt ausgestaltete Atmosphäre während der Gewaltszenen machen solche hochsadistischen Splatter zur visuellen Sensation. Die Bilder der Mißhandlungen und Tötungen - symbolisch stark aufgeladene optische Kondensatoren - werden zu Ritualen, ästhetisch überhöht und funktioniern nun als virtuelle Fetische. Die Faszination, welcher der Zuschauer beim Betrachten von Filmen wie DR. LAMB erliegt, ist bedingt durch ihre Ruchlosigkeit im Überschreiten moralischer Grenzen und durch die Art, in der gesellschaftlich akzeptierte Normen - auf der den Zuschauer betreffende Meta-Ebene zeitlich und räumlich begrenzt - außer Kraft gesetzt werden. Entscheidend ist die Verblüffung, aus der Täterperspektive heraus das Moment des Schreckens und der äußersten Grausamkeit - damals in HK psychologisch noch etwas ungewohnt - als ungebrochene, unreflektierte Triebabfuhr und damit, innerhalb einer zuschauerspezifisch mehr oder weniger strengen Hermetik, zum auch ästhetisch überlegenen, schönen Akt erhoben, d.h. lustvoll erleben zu können.

Eine weiterer legendärer Beitrag Tangs zum HK-Noir-Psycho-Splatter ist das Revenge-Movie RUN AND KILL (HK, ‘93), für das er die bis dato krassesten Splatter-Versatzstücke der sogenannten Category-III (Filme für Zuschauer ab 18 Jahre) zu einer brilliant-verrückten Sado/Maso-Melange voller tiefschwarzem Humor zusammenrafft und eine abenteuerlich groteske Gewaltspirale in Gang setzt - fraglos die saisonale Höchstleistung in diesem Bereich. Nach dem Pseudo-True-Crime-Retardo-Trasher RED TO KILL (HK, ‘94) und dem hölzern wirkende Kaspertheater BROTHER OF DARKNESS (HK, ‘94), die beide an HK-Versionen von Stücken des berühmt-berüchtigten Pariser Grand Guignol-Theaters erinnern, zieht Tangs sich aus diesem Subgenre zurück. Der Grund ist einfach: In anderen Exploitation-Subgenres läßt sich mehr verdienen.

-MAERZ-

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