In seinen guten Momenten ist Billy Tang In-shing einer der gnadenlosesten
und genialsten Exploitationists der Hong Konger Filmszene. Er zeigt nicht
die geringste Scheu, bösartig über die Stränge zu schlagen.
Fragen, die sich im Zusammenhang mit moralisch-ethischer Vertretbarkeit seiner
Arbeiten stellen, sind für ihn Kinkerlitzchen. Genau dafür lieben
ihn die Sicko-Kumpels der Videohöhlen aller Herren Länder. In Fragen
der politischen Unkorrektheit, des kalkulierten Tabubruchs und Skandals als
ausbeutbare Spektakel hat sich in Hong Kong höchstens noch Herman Yau
Lai-to so weit aus dem Fenster gelehnt wie er. Über seinen besten Filmen
lasten überschwere, süßlich-stechende Aromen wie von verrottenden
Eingeweideklumpen über denen Irrlichter aus selbstentzündlichen
Verwesungsgasen tanzen. Leider hat Tang die für ihn produktivste Zeit
der schwersten sozialethischen Desorientierung seit einigen Jahren schon
hinter sich gelassen. Eine Rückbesinnung scheint äußerst
unwahrscheinlich.
Nach den beiden kaum beachtenswerten Actionern DEFECTOR (HK, 89)
und DEADLY DESIRE (HK, 91) gelingt Tang in eigentümlicher Form
der Durchbruch (ob nach oben oder nach unten liegt im moralischen Ermessen
und der psychologischen Borderline-Tauglichkeit des Zuschauers). DR. LAMB
(HK, 92) bringt ihm einen massiven Aufmerksamkeitsschub. Aber nicht
nur ihm. Die eigentlichen Lorbeeren streicht sein Koregisseur Danny Li Sau-yin
(gleichzeitig auch einer der Hauptdarsteller) ein. Als Produzent des Films
kann Li es sich erlauben, Tang nur als Associate Director zu führen
(ein zu dieser Zeit recht ungewöhnlicher Titel, der eher aus dem HK-Kino
der 50s und 60s bekannt ist und damals in etwa die Funktion des Regieassistenten
beschreibt; später in den 90ern liegt der Arbeitsbereich des wieder
gebräuchlicher gewordenen Associate Directors irgendwo zwischen dem
des Regieassistenten und des Koregisseurs). Es ist aber sehr wahrscheinlich,
daß Tang zur Inszenierung mindestens ebensoviel beiträgt wie Li
(mit einiger Sicherheit sogar mehr).
Nach dem von Li und Tang hier eher zufällig entworfenen Bauplan
einer in HK neuen Gattung von Thrillern handelt es sich bei DR. LAMB um den
archetypischen Vertreter und die erste thematisch, ikonografisch und
ästhetisch perfekte Ausformulierungen des später
berühmt-berüchtigten HK-Noir-Psycho-Splatters, dessen Konzept der
filmischen Aufarbeitung authentischer (später auch fiktiver)
Kriminalfälle sich im HKer Exploitation-Zirkus für einige Zeit
als ausgesprochen tragfähig erweist. Seine genregenealogische Bedeutung
ist daher nicht zu unteschätzen.
Als besonders gelungen gelten diese Filme, wenn das Ausmaß der
Darstellungen von Sex und Gewalt, Wahnsinn und Tod ins geradezu Aberwitzige
aufgeblasen wird. Im Fall von DR. LAMB - der internationale ebenso wie der
chinesische Titel, übersetzt Lamb Doctor, riechen
verdächtig nach Anlehnungsversuchen an Jonathan Demmes Thriller THE
SILENCE OF THE LAMBS (USA, 91) - handelt es sich um eine spektakuläre
Serie von vier nachgewiesenen Morden, die zwischen Februar 82 und August
83 von dem von schweren sado-masochistischen und nekrophilen Obsessionen
verfolgten HKer Taxifahrer Lam Kwo-wan verübt wurden. (Über die
tatsächlichen Tatumstände kann man sich u.a. in Kate Whiteheads
Sachbuch Hong Kong Murders, S. 35 ff, informieren.) Für
diese Verbrechen wurde Lam zum Tod verurteilt. (Aufgrud des in der ehemaligen
Kronkolonie HK bis 97 geltenden britischen Rechts wird diese Strafe
nicht vollstrekt, sondern automatisch in eine lebenslängliche
Gefängnisstrafe umgewandelt.) Sicher dürften die Hongkies sich
beim Erscheinen von DR. LAMB (recht publikumswirksam zum zehnten Jahrestag
des Beginns der Mordserie) noch gut an den seinerzeit medienwirksam hervorragend
aufgearbeiteten echten Fall erinnern. Der Name des Täters wird für
den Film von Lam Kwo-wan in Lam Kwo-yu geändert - Wiedererkennung
garantiert. Die geschilderten Ereignisse stimmen grundsätzlich mit den
tatsächlichen überein.
Bei so viel Detailfreude verwundert die dem Film nachgestellte
übliche Schlußfloskel unter dem letzten Bild: All events,
characters [...] is coincidential and unintentional. Als Ausgangsmaterial
für den Plot greift Tang außerdem auf den von ihm schon früher,
als er um die Jahrzehntwende herum bei ATV (nach TVB HKs zweitgrößter
Fernsehsender) als Regisseur arbeitete, für die True-Crime-Fernsehreihe
Hong Kong Criminal Archives inszenierten TV-Film Female
Butcher zurück, in dem damals schon Simon Yam Tat-wah die Rolle
des Schlächters übernimmt.
Schön, daß schon der Hobbyfotograf und Amateurfilmer Lam
Kwo-wan instinktiv erkannte, wie wichtig die Bilddokumentation seiner Taten
zur Authentifizierung des Unvorstellbaren und zur Vervollkommnung seines
eigenen neo-archaischen Mythos ist. In kaum einem anderen Film aus HK werden
die Verschränkungen zwischen obsessiver Sexualpsychose, hochgradig
spekulativem Zuschauer-Voyeurismus und medialer Funktionsweise von
(S)Exploitation daher so deutlich wie in dem stark polarisierenden Lichtspiel
DR. LAMB. Das entspricht selbstverständlich nicht den Intentionen der
Filmmacher, sondern erfolgt durch die thematische Immanenz - zum Glück
- ganz von selbst; ist aber durch den vorbewußten Zustand, in dem dies,
wie zufällig, geschieht, unverfälschter und weit aussagekräftiger
als es die meisten beabsichtigten Durcharbeitungen dieses schwieriegen Komplexes
leisten würden. (Genau deshalb ist John McNaughtons Ausnahmefilm HENRY
[USA, 86] noch immer mit das beste, was bislang hierzu gesagt wurde.)
Die Einarbeitung des zu Zwecken höherer Authentifizierung beliebte
Snuff-Mythos drängt sich Tang und Li im Zusammenhang mit ihrer Story
förmlich auf und wird von ihnen, sicherlich ohne besonderen Vorbedacht,
aufgrund ihrer mangelhaften dramaturgischen Durcharbeitung des Ausgangsstoffs
zur Plotverschärfung dankbar angenommen. Ausschnitte der zur eigenen
Erbauung auf Video aufgezeichnet (von Tang und Li natürlich nachgestellten)
Taten des eitlen und bildgeilen Soziopath Lam sieht man während seiner
in Ausführlichkeit beschriebenen Verhöre auf der Polizeidienststelle
(hier ganz sicher der Einfluß von Danny Li, der in seinen 90s-Filmen
die Schilderung der freudlos-trockenen Polizeiarbeit gerne mit Folterungen
zur Geständniserleichterung auflockert und die Untersuchungsbeamten
- er selber natürlich immer wieder an deren Spitze - dadurch kaum weniger
psychotisch erscheinen als die Verdächtigen mit den ihnen zur Last gelegten
Schandtaten). Leider beherrscht weder Li noch Tang den medialen Scherensprung.
Große Schwierigkeiten bereitet den beiden, die unterschiedlichen
Perspektiven der direkten und der subjektiven Sichtweise logisch voneinander
zu trennen. So verwendet man z.B. eine Kamerafahrt, um den Wechsel von der
einen zur andern Wahrnehmungsebene (vom TV-Bild zum Kinobild) flüssig
zu gestalten. Das sieht hübsch aus, ist aber unsinnig.
Daß man es mit einem reinen, von westlichen Sehgewohnheiten
noch relativ unverdorbenen Produkt des nicht zu Unrecht für seinen wilden
Synkretismus und seltsamen schwarzen Homor bekannten HK-Kinos zu tun hat,
bemerkt man spätestens in jener, bei den Eingeborenen für Witz
und gute Laune sorgenden Szene, wenn durch Zufall einem überraschten
Untersuchungsbeamten eine einbalsamierte Frauentitte auf den Rücken
klatscht und er sie blitzschnell mit einem gelungenen Paß auf dem
Rücken einer Kollegin plaziert. So etwas, oder wenn z.B. Anthony Wong
Tsau-sang in Herman Yaus THE UNTOLD STORY (HK, 93) sich durch seine
Opfer metzelt, ist dem feixenden, schenkelklatschenden HKer Kinopublikum
noch jedesmal einen kathartischen Lacher wert gewesen. - Der Witz und
seine Beziehung zum Unbewußten (wie Sigmund Freud es
ausdrückte): die stehen hier in einem unbedingt direkten Verhältnis
zueinander.
Ähnlich wie verschiedene andere Filme des Subgenres war DR. LAMB
in HK im Kino nur zensiert zu sehen. Die ursprünglichen HKer und
taiwanesischen Videoveröffentlichungen von DR. LAMB entsprechen dieser
um mehrere Minuten gekürzten Schnittfassung. Ein erstes größeres
Stück wurde aus der Vorspann-Sequenz, die in Lams Jugend spielt,
herausgeschnitten: Eine Szene, in der er seine Eltern beim Vögeln
beobachtet. Nicht weiter tragisch. Die erwachende sexuelle Neugier würde
wohl auch jeden völlig normalen Teenager sich in ähnlicher Weise
verhalten lassen. Zum psychologischen Verständnis trägt sie nichts
bei. Dieser und noch einige weitere (unzensierte) Versuche einer
Psychologisierung sind so platt und nichtssagend, die beiden Regisseure daran
so offensichtlich desinteressiert, daß ihre Alibifunktion sofort auffliegt.
Interessanter, zumindest für Bluthunde, ist der nächste große
Schnitt von rund vier Minuten: Der Überltäter verliert über
seinem ersten Mordopfer völlig die Beherrschug, wabbelt es durch, kreischt
wie ein Affe, vollführt einen improvisierten Bondage-Workout mit der
Toten, versucht vergblich, sie mit einem Hackmesser zu zerlegen, veranstalt
schließlich mit einem hurtig organisierten Freihand-Trennschneider
eine kolossale Sauerei. Während der Bearbeitung seines zweiten Opfers
fehlen weitere zirka 90 Sekunden: anatomische Studien, Vorbereitung der Sektion,
Jaulen über dem Leichnam, Totenöffnung und Brustverunstaltung durch
wildes Einstechen, fotografische Dokumentation des Erreichten. Die letzte
bedeutende Filmverstümmelung erfolgt bei Lams Bearbeitung des dritten
Opfers: Waschen, Schminken, Instellungbringen der Toten zum auf Video
festgehaltenen, nekrophilen Tête-à-tête. Rund acht Jahre
nach der Erstveröffentlichung erscheint in HK eine vollständig
ungeschnittene Fassung des Films.
Mit oder ohne Schnitte: DR. LAMBs Inszenierung bleibt reines
Stückwerk. Damit gleicht der Film und das, was ihm auf seinem Weg
widerfahren ist, in gewisser Weise den von Lam übel zugerichteten
Frauenkadavern. Ein interessantes Phänomen der Selbstähnlichkeit,
des sich (auf mehreren medialen Ebenen) vom Kleine ins Große fortsetzenden
gleichartigen Strukturaufbaus. Auch das Gesetz der Serie setzt sich mit dem
Boom von teilweise extrem sadistischen Nachziehern über die derangierten
Sexualpraktiken und blutigen Massaker gestörter Mitbürger auf der
Leinwand fort.
Die (bedingt) technische Eleganz in der Schilderung der Gewaltszenen,
die so wenig zu den niederen Instinkten paßt, die hierdurch befriedigt
werden sollen, ist es, die DR. LAMB (und gelegentlich auch seine Epigonen)
interessant macht. Das hinter dem HK-Noir-Psycho-Splatter stehende
ästhetische Funktionsprinzip ist grundsätzlich aus den seit den
60er Jahren in Italien entstandenen Giallo-Thrillern und Supernaturals (z.B.
jenen Mario Bavas oder Dario Argentos) bekannt - deren Urvater ist
natürlich Alfred Hitchcocks PSYCHO (USA, 60). (In der westlichen
Hemisphäre segnete das Subgenre mit seinen Ablegern Splatter-, Slasher-,
Gore-Movie etc. schon in den frühen 80ern das Zeitliche.) Die oft
kunsthandwerklich nicht ungeschickt ausgestaltete Atmosphäre während
der Gewaltszenen machen solche hochsadistischen Splatter zur visuellen Sensation.
Die Bilder der Mißhandlungen und Tötungen - symbolisch stark
aufgeladene optische Kondensatoren - werden zu Ritualen, ästhetisch
überhöht und funktioniern nun als virtuelle Fetische. Die Faszination,
welcher der Zuschauer beim Betrachten von Filmen wie DR. LAMB erliegt, ist
bedingt durch ihre Ruchlosigkeit im Überschreiten moralischer Grenzen
und durch die Art, in der gesellschaftlich akzeptierte Normen - auf
der den Zuschauer betreffende Meta-Ebene zeitlich und räumlich begrenzt
- außer Kraft gesetzt werden. Entscheidend ist die Verblüffung,
aus der Täterperspektive heraus das Moment des Schreckens und der
äußersten Grausamkeit - damals in HK psychologisch noch etwas
ungewohnt - als ungebrochene, unreflektierte Triebabfuhr und damit, innerhalb
einer zuschauerspezifisch mehr oder weniger strengen Hermetik, zum auch
ästhetisch überlegenen, schönen Akt erhoben, d.h. lustvoll
erleben zu können.
Eine weiterer legendärer Beitrag Tangs zum HK-Noir-Psycho-Splatter
ist das Revenge-Movie RUN AND KILL (HK, 93), für das er die bis
dato krassesten Splatter-Versatzstücke der sogenannten Category-III
(Filme für Zuschauer ab 18 Jahre) zu einer brilliant-verrückten
Sado/Maso-Melange voller tiefschwarzem Humor zusammenrafft und eine abenteuerlich
groteske Gewaltspirale in Gang setzt - fraglos die saisonale Höchstleistung
in diesem Bereich. Nach dem Pseudo-True-Crime-Retardo-Trasher RED TO KILL
(HK, 94) und dem hölzern wirkende Kaspertheater BROTHER OF DARKNESS
(HK, 94), die beide an HK-Versionen von Stücken des
berühmt-berüchtigten Pariser Grand Guignol-Theaters erinnern, zieht
Tangs sich aus diesem Subgenre zurück. Der Grund ist einfach: In anderen
Exploitation-Subgenres läßt sich mehr verdienen.
-MAERZ-
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