Wer erinnert sich noch an den Oscarkandidaten und Berlinalegewinner
"Central Station" aus dem Jahr 1998? Jener vielgelobte Arthaus-Hit, bei dem
sich alle einig schienen; vor allem die Hollywood-Hasser, die "anspruchsvolles"
Kino bevorzugen. Regisseur Walter Salles, sein Kameramann Walter Carvalho
und Produzent Arthur Cohn haben sich wieder gefunden, um einen Film über
eine Familienfehde zu machen; angesiedelt irgendwo im brasilianischen Hinterland,
so um 1910 herum. Der Film ist eine
brasilianisch/französisch/schweizerische Koproduktion und man würde
sich nicht wundern, wenn die ein oder andere deutsche Förderanstalt
mit ihm Boot säße; ist dieses Projekt doch geradezu ideal in seiner
garantierten Konsensfähigkeit; hier wird nichts gewagt, entsprechend
auch nichts gewonnen und erheblich wichtiger: nichts verloren.
Inspiriert durch den Roman "Der zerissene April" des albanischen
Schriftstellers Ismail Kadaré wird die Geschichte von Tonho (Rodrigo
Santoro) erzählt, dessen Vater (José Dumont) ihm befiehlt, den
Tod seines älteren Bruders zu rächen. Obwohl Tonho weiß,
dass er mit dem Mord sein eigenes Leben aufs Spiel setzt, beschließt
er, die Ehre der Familie zu retten. Erst die Fragen seines jüngeren
Bruders Pacu (Ravi Ramos Lacerda) stimmen ihn nachdenklich und lassen ihn
an der Blutrache zweifeln. Als eines Tages ein Wanderzirkus (Achtung: Dem
Arthaus-Fan schießt sofort Fellinis La Strada durch den Kopf) durch
die Gegend reist und Tonho sich in die bezaubernde Schaustellerin Clara (Flavia
Marco Antonio) verliebt, hat er die Möglichkeit sein Leben zu
ändern...
Es gibt in diesem Film eine Reihe gelungener Momente, etwa wenn sich
Clara an einem Seil emporschwingt um von Tonho durch die Luft gewirbelt zu
werden, bis die Welt um sie herum verschwimmt und die Zeit stillzustehen
scheint. Unterstützt von der herausragenden Musik Antonio Pintos wird
man von wohligen Schauern erfüllt. Das ist nett anzusehen, schön
photografiert sowieso, es ist jedoch, speziell wenn man die Thematik im Auge
behält, enttäuschend zahnlos. Nichts ist vom Dilemma dieses jungen
Mannes spürbar, dessen Leben durch den Mord eine dramatische Wende
erfährt; für den die Uhr plötzlich, wie ein Protagonist im
Film sagt, rückwärts läuft, mit jeder Sekunde unerbittlich
dem Tod entgegen, dem ungeschriebenen Gesetz der Blutrache folgend. Aber
Walter Salles kann wohl nicht anders, und er will es auch nicht. Er interessiert
sich mehr für den jungen Bruder, der glänzende Augen bekommt, wenn
er in einem geschenkten Buch die Bilder betrachtet und in seinem Kopf Geschichten
entstehen, die ihn fortbringen, weit weg von der Langeweile und Monotonie
der immergleichen Arbeit. Es ist dann eben doch ein Film entstanden über
den Versuch einer Selbstbefreiung, nicht frei von Sentimentalität und
Romantisierung. Weichgespültes, anspruchsvolles Kino eben.
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