In Sandrine Veyssets erstem Film Gibt es zu Weihnachten Schnee?
ging es um eine Mutter, die an ihren sieben Kindern Halt zu finden
versucht gegen deren tyrannischen Vater.
Victor oder als es zu spät
war, ihr zweiter Film, erträumte sich eine denaturalisierte
Mutter-Kind-Dyade zwischen einer Prostituierten und einem ihr zuglaufenen
kleinen Jungen. In Martha...Martha nun finden wir eine komplette
Kleinfamilie vor: Martha, Raymond und das (womöglich aber nicht gemeinsame)
Kind Lise. Dieser Familienkern jedoch hat von der ersten Minute an einen
Riss, Veysset führt ihn ein über die (Nicht-)Beziehung Marthas
zu ihren Eltern, die sie auf rätselhafte, vom Film nie ganz
aufgeklärte Weise verkennen. Diese erste Einstellung, zäsuriert
von den Schriftzeilen des Vorspanns, ist ein umso stärkerer Setzungs-Moment,
als die Eltern Marthas im Rest des Films nicht mehr vorkommen werden.
Martha, ihr Mann, ihre Tochter haben ein Zuhause, aus dem Martha weg
will. Sie ist die verkörperte Unruhe, Unrast und man spürt sofort,
dass dem durch einen Ortswechsel nicht abzuhelfen sein wird. Der Alltag der
drei, sie leben vom Verkauf von Second-Hand-Kleidung auf Flohmärkten,
bewegt sich ständig am Rand des Abgrunds. Martha will entkommen, weiß
nicht wohin, liebt ihre Tochter und ist doch kaum in der Lage, die Routine
des familialen Zusammenlebens aufrechtzuerhalten, Lise auch nur rechtzeitig
zur Schule zu bringen. Veysset zeigt und ihre Darstellerin Valérie
Donzelli spielt mit großartigem Gespür für die Nuance diesen
Riss, den Wahnsinn, den Willen zur Selbstzerstörung, der in Martha von
der ersten Sekunde an lauert. Zweimal erzählt sie, vor Lise, die (vermutlich
erfundene) Geschichte von der Mutter, die aus dem Fenster springt, ihre beiden
Kinder unter dem Arm. Die Frau war sofort tot, sagt Martha. Und die Kinder,
fragt Lise. Martha zögert, dann: die sind nach oben geflogen und haben
das Fenster zugemacht. Martha schüttet sich aus vor Lachen.
Sandrine Veysset erzählt unspektakuläre Szenen aus dem Alltag
dieser Familie. Sie verfolgt sie nach Spanien, wo Marthas Schwester mit ihrem
offenkundig reichen Mann lebt, vieles bleibt unausgesprochen zwischen den
Schwestern und doch liegt in jedem der Bilder von diesem gespenstischen Ausflug
eine kaum erträgliche Spannung. Alle Szenen bestehen nur aus ein paar
Einstellungen, Veysset zeigt, was zu zeigen ist, ohne alle symbolische Aufladung,
charakterisiert ihre Figuren, die Konstellationen und ihre Verschiebungen
am bezeichnenden Detail. Martha...Martha lebt von Auslassungen genauso
wie von dem, was gezeigt wird, der Film entwirft so seine eigene Zeit, eine
psychologische Plausibilität, die sich keiner schlüssigen Deutbarkeit
verdankt, nur der Schlüssigkeit der Oberfläche der Figur und der
Bilder. Die Auslassungen stehen so für den angenehmen Verzicht auf
Erklärungen, dazu passt der ganz objektive Beobachtungsstil des Films,
der ungerührt harmlose Alltagsszenen zeigt und dann auch die Vergewaltigung
Marthas, die zur Zäsur führt, zu Marthas Verschwinden. Die
Konzentration auf den bis dahin komplett rätselhaft gebliebenen Vater
und auf Lise bedeutet so etwas wie eine Atempause, Marthas Abwesenheit bleibt
jede Sekunde spürbar, neben die Trauer um den Verlust der Mutter und
der Frau tritt jedoch ein Moment der Erleichterung. Vater und Tochter ziehen
um, beginnen zögernd ein neues Leben.
Martha wird zurückkehren, doch sie wird nicht dieselbe sein.
Das ist nicht Mama, sagt Lise. Ohnehin ist Lise, wenn der Film eine
Beobachtungsperspektive hat, diese Perspektive. Ihre Liebe zur Mutter ist
unbedingt, man kann kaum anders als, bei aller Ungeduld, diesen Blick zu
übernehmen. Einmal träumen wir in den Bildern des Films einen
schrecklichen, surrealen Alptraum mit Lise. Ein Wagnis, ohne Frage, aber
eine Klärung in jedem Fall darin, dass sich der Film hier auf Lises
Seite schlägt. Der Titel scheint genau die von Lise wahrgenommene Spaltung
benennen zu wollen, der manische Wahnsinn der "ersten" Martha verwandelt
sich in die, wie man befürchtet, suizidale Apathie der zweiten, der
als andere zurückgekehrten. Die Familie zieht sich ganz auf sich selbst
zurück, in ein einsames Haus in der freien Natur, Raymond hackt Holz,
Martha und Lise werden von der Kamera in Naturidyllen eingefangen, von denen
man nicht weiß, wie trügerisch sie sind. Dieses letzte Viertel
des Films entzieht sich der eindeutigen Wahrnehmung. Kommt Martha hier, in
der Stille, in der Natur, zu sich oder verliert sie sich endgültig?
Im Bett toben Martha und Lise herum, Martha drückt das Kissen auf Lises
Gesicht. Raymond fährt, erwachend, entsetzt dazwischen. Alles steckt
in dieser Szene, die totale Verunsicherung über die Figur, Spiel kann
in Ernst kippen, nichts tut Veysset, diese Unsicherheit zu zerstreuen. Konsequent
und meisterlich die Schlussbilder: Martha beobachtet in tiefer Nacht, wie
Martha ins Wasser geht. Das Schlussbild: der Waldsee am Morgen, der Blick
auf eine Wasseroberfläche, auf der sich die Morgensonne bricht.
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