Dr. Fuentes, prominenter Arzt in der Hauptstadt, ist ein Muster
liberaler Ahnungslosigkeit. Ein hochrangiger Militär ist sein Patient
und als der ihm von Guerillakämpfern in den Bergen erzählt, ist
Fuentes sehr erstaunt: die, glaubt er, gebe es längst nicht mehr. Sein
großes humanitäres Projekt sieht er plötzlich in etwas anderem
Licht. Jahrelang hat er junge Ärzte ausgebildet, die in die
Indianerdörfer gingen, um deren Bewohnern medizinisch zur Seite zu stehen.
Ein weiterer Riss in der Selbstzufriedenheit folgt sofort: er entdeckt einen
früheren Studenten bei dubiosen Verkaufstätigkeiten in einem
gefährlichen Stadtviertel, der sich in finsteren Andeutungen ergeht.
Kurzerhand beschließt Fuentes die Erkundung der Realität auf eigene
Faust. Mit seinem Auto macht er sich auf ins unwegsame und unvertraute
Gelände abseits der Städte. Im ersten Dorf stößt er
auf eine Mauer des Schweigens, erfährt, als er aufgeben will, vom Mord
am Arzt, von der Angst der Überlebenden: Männer mit Waffen, Soldaten
haben ihn getötet. Im nächsten Dorf dieselbe Geschichte, ein
elternloser Junge führt ihn an die Stätte der Hinrichtung:
Totenschädel und Knochen zeugen von der Tat. Der Junge bleibt für
den Rest der Reise bei ihm, ein Deserteur, der ihn erst bedroht und bestiehlt,
dann aber, angeschossen, seine Hilfe benötigt, kommt dazu. Weitere
Weggenossen: ein aus seinem Glauben entlaufener befreiungstheologisch
inspirierter Priester, ein verstummtes Vergewaltigungsopfer. Amerikanische
Touristen, rechthaberisch und ahnungslos, Zerrbilder wohlmeinender Ignoranz,
zugleich das Moment des bitteren comic relief des Films.
Die Nacherzählung täuscht. "Men With Guns" hat Züge
des Didaktischen, des Politfilms, nicht aber nach schlechter Hollywoodmanier,
die stets in die Verzuckerung bitterer Pillen durch Unterordnung des Gegenstands
unter spannungsdramaturgische Manöver investiert. Sayles' Film dagegen
trägt sein Engagement offen zur Schau und der Inhalt formiert hier die
Form. Kein Element, kein Moment der Handlung nimmt Rücksicht auf die
Darstellungskonventionen des Hollywood-Illusionismus. "Men With Guns" spielt
stattdessen in einem Zwischenreich, in das sich Filmemacher und Erzähler
nur selten verirren. Ungewöhnlich auch und gerade für John Sayles,
der seine Geschichten sonst stets, beinahe dokumentarisch, genauestens
lokalisiert, und aus der Sättigung mit den konkreten Umständen
heraus öffnet, weitet, entfaltet. Hier jedoch ist der Schauplatz ein
fiktiver Staat in Mittelamerika, fiktiv aber nicht auf die Weise, dass er
genausogut einen vertrauten Namen tragen könnte. Die genau Bestimmung
der Art der Fiktion ist in diesem Fall von zentraler Bedeutung; der Ort des
Films, seine Realität - und es ist eine Realität, die von den Orten
geradezu konstituiert wird -, ist genau einen Abstraktionsgrad von den Gefilden
des Realismus entfernt. Nicht aber in Richtung "magischer Realismus", denn
nichts Übernatürliches ereignet sich.
Es ist der Begriff, den sich die Realität des Films von
Wahrscheinlichkeit macht, der mit dem gewöhnlichen Illusionismus
wenig zu tun hat. Das Irgendwo (mitunter sprechen die Namen: Los
Perdidos, Cerca del Cielo) ist das Nirgendwo und Überall
der Allegorie. Die Geschichte, die erzählt wird, bezieht ihren Sinn
nicht in erster Linie aus der doppelten Orientierung auf Wirklichkeitsabbildung
einerseits und Binnenlogik der Narration andererseits. John Sayles erzählt
von einer Reise, die eine spirituelle ist, das Modell ist das der Queste,
die Struktur am ehesten die mittelalterlicher Romane, die Vorstellung von
diskontinuierlichen Räumen und christliche Motive inbegriffen. Von der
Benennung dreier Patronen - "Vater, Sohn, Heiliger Geist" - über die
Figur des sich durch Opferung selbst erlösenden Priesters bis zur Suche
nach dem für alle, die nicht reinen Herzens sind, unauffindbaren Paradies
in der Nähe des Himmels legt Sayles Spuren zu christlichen Glaubensinhalten.
Das ist freilich nur zu konsequent und hat mit Frömmigkeit nichts zu
tun. Es ist die Allegorie, die nach der Belegung ihrer Bezüge mit lesbaren
Topoi verlangt, die des Christentums liegen, formgeschichtlich und regional,
nahe. Die Sachlichkeit der Bilder, das Theatrale der Inszenierung,
ja, sogar der weitgehende Verzicht von Slawomir Idziaks Kinematografie
auf die üblichen schlechte und falsch mythische Oberflächen
produzierenden Filter arbeiten gegen alle Verunklärung. So weist der
Sinn über das konkrete Bild, den konkreten Vorgang und die konkreten
Personen stets hinaus, nicht aber zur Darstellung allegorischer
Wahrheiten, sondern nur im Dienst der Aufklärung: Men With Guns
ist ein wagemutiges, gegen alle Regeln des Erzählkinos gearbeitetes
Lehrstück in Stationen, die Allegorie einer politischen
Bewusstwerdung.
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