Afghanistan ist weit von uns entfernt. Ein Landstrich im Weltatlas,
eine Schlagzeile in den Nachrichten. Jetzt erreicht der erste afghanische
Spielfilm nach dem Ende des Taliban-Regimes die Kinos. "Osama" schaut auf
die Zeit des religiösen Wahns zurück und stellt ein als Junge
verkleidetes Mädchen mitten in das Zentrum der Fanatiker.
Nur in Begleitung ihrer Männer dürfen Frauen das Haus verlassen.
Allein lebende sind gezwungen, sich regelwidrig zu verhalten, weil sie für
ihren Unterhalt sorgen müssen. Bewaffnete Taliban, die mit Lastwagen
durch die Gegend fahren, drohen diesen Frauen. Eine Ärztin, die einen
Patienten im Hospital versorgt, und ihre Tochter beschimpfen die Männer
und schicken die beiden nach Hause.
Aus der Not heraus macht die Großmutter den Vorschlag, der
Zwölfjährigen die Haare abzuschneiden und sie wie einen Jungen
zu kleiden. Sie arbeitet und ernährt so die vaterlose Familie. Die
ungewohnte Rolle birgt Gefahren. Die Kleine muss an religiösen Riten
teilnehmen, die Männern vorbehalten sind. Als die Taliban alle Jungen
für die Koranschule rekrutieren, bleibt die Identität des
Mädchens, das sich Osama nennt, nicht lange geheim. Es wird für
sein Vergehen bestraft.
1994 wurde der letzte Spiel-, 1996 der letzte Dokumentarfilm in
Afghanistan gedreht. Unter den Taliban galt ein Bilderverbot: Filme, Fotos
und Malerei waren nicht erlaubt. Weltweit stieß die Zerstörung
der berühmten Buddha-Statuen auf Empörung. Sieben Monate nach dem
Sturz der Taliban drehten junge Afghaninnen den ersten Dokumentarfilm. Dieser
lief im Frühjahr 2003 auf dem Dortmunder Filmfestival
femme totale. Das Leiden der Frauen
in dem zerstörten Land bekam durch "Afghanistan entschleiert" ein Gesicht.
Bis zur Machtübernahme durch die Mullahs war der Regisseur Siddiq
Barmak Direktor von Afghan Film, eine Produktionsfirma und ein Archiv.1996
ging er ins Exil. Nach seiner Rückkehr übernahm er die alte Position
und im letzten Jahr zusätzlich die Leitung der Afghanischen
Kinder-Erziehungs-Bewegung. Mit finanzieller Unterstützung durch den
iranischen Regisseur Mohsen Makhmalbaf ("Die Reise nach Kandahar") wurde
sein Film "Osama", der mit Laiendarstellern besetzt ist, realisiert.
Afghanistan rückt durch ihn näher an uns heran. Bilder
prägen sich ein: die abgeschnittenen Zöpfe im Blumentopf, modisch
geschnürte Sandalen an Frauenfüßen, das Seil springende
Mädchen mit dem Kurzhaarschnitt. Eine Szene brennt sich fest: Wenn Osama,
von den Jungs der Koranschule zu einer Mutprobe herausgefordert, einen kahlen
Baum hoch klettert, auf dessen Ast sitzt und sich nicht traut, wieder
herunterzusteigen. Sie hat panische Angst, und weit unter ihr, auf dem sicheren
Erdboden, versammelt sich eine Horde hetzender Jungen mit weißen
Turbanen.
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