Den Anschein von Sommer verbreitet nur das Festivalplakat zur
femme totale in Dortmund. Ansonsten pfeift der Wind über
den Bahnhofsvorplatz und unter die Mäntel, wenn man zwischen Festivalzentrum
Dietrich-Keuning-Haus, CineStar, Camera und Petri-Kirche hin- und herläuft.
Von einer, die auszog, um die Magie der Worte zu
spüren. Die Schweizer Schriftstellerin und Journalistin Annemarie
Schwarzenbach bereiste in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts Afghanistan.
Die deutsche Schauspielerin Jeannette Hain - von femme totale
zur Reihe Weder glatt noch gefällig geladen - las gestern
Abend in der Petri-Kirche aus dem Roman Alle Wege sind offen.
Schwarzenbach schwärmt von den Pässen am Hindukusch, von Gebirgsketten
und Hügeln. Wunderschöne, poetische Passagen, die Jeannette Hain
mit ihrer angenehmen Stimme vorträgt.
Davor und danach: Filme aus dem alten Afghanistan, von einem Land,
das für uns, die wir die Stereotypen aus der Fernsehberichterstattung
der letzten Jahre kennen, völlig unbekannt ist. La
Fiancée ist ein ethnographischer Dokumentarfilm über die
Hochzeitsvorbereitungen für ein 15-jähriges afghanisches Mädchen.
Sie soll einen älteren Mann heiraten und macht sich über ihr Schicksal
keine Illusionen. Nie wieder wird sie es so gut haben wie in ihrer unbeschwerten
Kindheit in der eigenen Familie.
Nomades Afghanes, ein Stummfilm aus den 30ern, von der
Schweizerin Ella Maillart dokumentiert ihre Expedition mit Annemarie
Schwarzenbach nach Afghanistan: Landschaft, Menschen und Kultur. Acht Filme
liefen in der Länderreihe Afghanistan, um Poesie, Musik und Fotografie
im Rahmenprogramm ergänzt. Ein Rückblick auf die gute alte Zeit,
der ihre Schattenseiten nicht verleugnete, aber gleichzeitig eine neue
Perspektive auf die Heimat von Millionen von Menschen eröffnete.
Zurück in die unbeschwerte Zeit der 70er-Jahre führte die
Dokumentation Ein Traum von Kabul von der 1964 geborenen Regisseurin
Wilma Kiener. Auf dem Weg nach Indien oder Nepal stoppten die
Blumenkinder in Afghanistan, um billig Hasch zu kaufen und für
einige Zeit gut zu leben. Mit glänzenden Augen sitzen die Ex-Hippies
in ihren im orientalischen Stil eingerichteten Wohnzimmern vor der Kamera
von Dieter Matzka und berichten von einem Land, in dem nicht Milch und Honig,
sondern Drogen flossen. Dass das Land am Hindukusch nur bedingt ein
Märchenland somewhere over the rainbow war, zeigt Bildmaterial
aus jener Zeit: ein Aussteiger mit Gelbsucht weint, weil er ohne Geld für
den Rückflug nicht überlebt, die Obduktion der Leiche eines
Drogentoten, Kreuze, auf denen die ausländischen Namen der Traveller
und ihre kurze Lebenszeit eingeritzt sind, die Aufnahme einer 19-Jährigen,
die in einem Steinfeld die Heroinnadel aufzieht und sich einen Schuss setzt.
Ein Bildtext informiert, dass sie zwei Monate später in Indien starb.
Der Regisseur Johannes Schaaf fuhr in den 70ern nach Afghanistan, um für
einen öffentlich-rechtlichen Sender einen Film über deutsche Aussteiger
in Afghanistan zu drehen. Noch heute merkt man ihm seine wütende
Desillusionierung an, als er nach zahllosen Interviews feststellte, dass
es den Flower-Power-Mädchen und -Jungs nicht um eine alternative Lebensform,
sondern um den günstigen Drogenerwerb und ein billiges Leben ging.
Auf großen Publikumszuspruch stieß der erste Film von
und über afghanische Kamerafrauen. Zwei von ihnen, Shekiba Adil und
Merhia Aziz, stellten ihre Dokumentation Afghanistan Unveiled - Afghanistan
entschleiert vor. 18 und 19 Jahre alt sind die zierlichen Frauen, die
in Kabul im Juli 2002 bei einem kurzen Lehrgang an der Kamera ausgebildet
wurden. Im Anschluss daran sofort der Sprung ins kalte Wasser: Sie fuhren
mit anderen Kamerafrauen und einem zweiten Filmteam, u.a. Brigitte Brault
und Florent Milesi, acht Wochen durch das Land.
Auf ihrer Reise befragen sie afghanische Frauen nach ihrem Leben,
dokumentieren die bittere Armut und den quälenden Schmerz über
den Verlust von Familienangehörigen. Sie sehen, dass jenseits von Kabul
die Frauen weiterhin aus Furcht die Burka tragen und das Haus selten verlassen.
Von gleichen Rechten für Frauen und Männer ist auf dem Land keine
Rede mehr. Das zweite Filmteam richtete die Kameras auf die nachforschenden
und drehenden jungen afghanischen Frauen und beobachtete ihren persönlichen
Umgang mit der Situation ihrer Heimat.
In den Interviews können die frisch gebackenen Journalistinnen
die Tränen über Schilderungen des Grauens oftmals nicht
zurückhalten. Die Kamera schützt sie nicht vor Emotionen, vor
Mitgefühl und dem Mitleiden. Aber es gibt auch Szenen von Leichtigkeit
und Stärke: das unbeschwerte Spielen mit Steinen am Wasser, die Euphorie
über den ersten Ausritt, der ihnen Respekt erweisende Tanz und Gesang
der Männer eines Dorfes. Selbstbewusst reflektieren die weiblichen Pioniere
hinter der Kamera ihren neuen Beruf, der ihnen die Möglichkeit
eröffnet, das erste Mal allein zu reisen und die Geschichte der Frauen
ihres Landes aller Welt zu erzählen. Nach der Vorstellung, der Applaus
wollte gar nicht enden, sah man den beiden jungen Kamerafrauen den Stolz
über das Erreichte an.
Die Möglichkeit, mit der Filmkamera Distanz zu wahren und Erfahrungen
zu transferieren, stärkte auch Caterina Klusemann. In einem katholischen
Vier-Personen-Haushalt in Lucca/Italien mit ihrer Großmutter, Mutter
und Schwester aufgewachsen, gab es in den biographischen Fakten zur Familie
Lücken und Ungereimtheiten. Die Regisseurin forschte nach und begann
- geschützt durch die Kamera - ihrer Großmutter Fragen zu stellen.
Ima (hebräisch für Mutter) dokumentiert in vielen Szenen
ihr anfängliches Scheitern. Die energische alte Dame wehrt die
hartnäckige Enkeltochter ab und fordert, in Ruhe gelassen zu werden.
Immer wieder fällt die Schlafzimmer ins Schloss. Dazwischen Dispute
und vergleichbare Wiederholungen von Verweigerung wie schon in einem anderen
Film dieser Reihe: Our Burmese Days. Eines Abends bleibt die
Tür geöffnet. Die Großmutter übergibt der Enkelin ein
Päckchen mit Dokumenten und Fotos aus ihrer Vergangenheit. Sie ist
Jüdin, rettete sich und ihrer Tochter mit falschen Papieren das Leben.
Von der verlorenen, wieder gefundenen und nicht annehmbaren
Identität handelt Daughter from Danang, von Gail Dolgin
und Franco Vincente. Heidi, als Tochter einer Vietnamesin und eines Soldaten
der US-Army in Vietnam geboren, gelangte im Rahmen der Aktion
Babylift in die USA und wurde von einer allein erziehenden Mutter
adoptiert. Die damalige Regierung wollte mit dieser Aktion Sympathien für
den Krieg gewinnen, die Vietnamesinnen gaben ihre Kinder weg, da man ihnen
sagte, es sei besser für sie und zeitlich befristet. Sowohl die leibliche
Mutter als auch die Tochter begannen im Fall von Hiep, in den USA zu Heidi
geworden, nacheinander zu suchen. Über eine Agentur fanden sie sich.
Heidi, inzwischen selbst verheiratet und Mutter zweier Kinder, besuchte ihre
leibliche Mutter und Familie in Vietnam. Nach der ersten Freude, den Tränen
und dem Gefühl engster Verbundenheit, tritt die Differenz der Kulturen
zutage. Heidi gerät außer sich, als die Familie sie bittet, die
Mutter fortan zu unterstützen. Was für die Vietnamesen ein Teil
ihrer Familienkultur ist, wird für die Amerikanerin zum Desaster. Sie
reist ab. Zwei Jahre später hat sie immer noch keinen Kontakt mehr zu
ihrer leiblichen Familie, relativiert die Ablehnung aber mit dem Satz, dass
die Tür zwar zu, aber nicht abgeschlossen sei.
Wo die einen mit Lautstärke den Schmerz abtöten oder den
radikalen Bruch mit der Vergangenheit wählen, verfallen andere in
Sprachlosigkeit. You are deaf, blind and mute as an immigrant,
formuliert die Regisseurin Jane Wong, um die Ausgeschlossenheit von Einwanderern
aufgrund von Sprach- und Kulturbarrieren zu charakterisieren. Sie
porträtiert in Dim Sum - A little bit of heart drei Frauen,
wovon eine ihre Mutter ist. Für die in erster Generation als Tochter
chinesischer Immigranten in Liverpool geborene Jane Wong ist der Wechsel
zwischen den Kulturen mit geringen Mühen verbunden. Für ihre Mutter
und deren Freundinnen gerät schon der Kauf einer Zimmerpflanze zum
Abenteuer. Obwohl die drei Chinesinnen aus verschiedenen Generationen stammen,
verbindet sie das Gefühl des Fremdseins in England. They have
their little fortresses, beschreibt Jane Wong den Versuch der drei
Frauen, Vertrautes im Fremden zu positionieren und zeigt ihre Mutter beim
Karaoke-Singen oder bei einer ihrer Lieblingsbeschäftigungen: der
Essenszubereitung.
Die Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne verwirrte mich,
schrieb Annemarie Schwarzenbach in ihrem Reiseroman Alle Wege sind
offen. Mit einem besseren Zitat, aus dem Zusammenhang gerissen, lässt
sich nicht enden.
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