Im Universum der Haarfetischisten
Die kleinen, weißen Mäuse aus der Anfangssequenz von "Human
Nature" haben im weiteren Verlauf des Films nichts mehr zu lachen. Am Ende
trampen sie mit einem Schild, auf dem NEW YORK geschrieben steht, in die
große weite Welt. Dazwischen liegt die Hölle in einem Forschungslabor,
in dem ein Wissenschaftler Menschen und Mäusen das wilde Leben aus-
und sie in die Zivilisation hineintreiben will.
Zwei lange Jahre benötigte der deutsche Verleih, um diesen
abgedrehten Märchenfilm ins Kino zu bringen. Auf dem Filmfest in
München 2002 debütierte der französische Regisseur Michel
Gondry mit "Human Nature" und trug gleich den mit 25 000 Euro dotierten "High
Hopes Award" mit nach Hause. Die "großen Hoffnungen" haben sich
erfüllt. Gondrys zweiter Spielfilm läuft seit einigen Wochen auch
in unseren Kinos unter dem Titel, der aus dem Poesiealbum deutscher Verleiher
stammen könnte: "Vergiss
mein nicht!"
Im leicht bekifften Universum von Michel Gondry und Charlie Kaufman,
der wie bei "Being John
Malkovich" (Regie Spike Jonze) und
"Adaptation" wieder das Drehbuch schrieb,
Jonze beschränkte sich dieses Mal auf die Co-Produktion, klingt der
Moment des Herzschmerzes am Ende einer Liebesbeziehung - wie im Fall von
"Human Nature" - natürlich weitaus existenzieller: "Eternal Sunshine
of the Spotless Mind".
Vielleicht lag's ja am Erfolg von "Eternal...", aber lassen wir das
Lesen im Kaffeesatz deutscher Verleihpolitik. "Human Nature" ist im Kino,
und allein der Umstand, die Schauspielerin Patricia Arquette mit langhaarigem
Ganzkörpertoupet durch den Koboldwald hoppeln zu sehen, lohnt den Kauf
der Eintrittskarte. Ein Graus für alle Damen, die in diesem Frühsommer
wieder zu den vielgestaltigen Mitteln der Epilation greifen müssen,
um sich bikini- und rockfein herzurichten. Erinnert sich jemand an den Skandal,
den Julia Roberts auslöste, als sie zur Premiere von
"Notting Hill" den Arm
auf dem roten Teppich anhob, um jubelnden Fans zuzuwinken, und ein
kräftiges Büschel Achselhaare zum Vorschein kam? Sie schaffte es
damit immerhin auf die erste Seite der internationalen Klatschpresse.
Patricia Arquette als am ganzen Körper behaarte Lila wäre
wahrscheinlich im Völkerkundemuseum zu bestaunen. Bei ihr spielen die
Hormone verrückt. Ihre Behaarung am ganzen Leib beseitigt sie nur mit
einer schmerzhaften Laser-Epilation oder zeitaufwändiger Nassrasur.
Wohl jede Frau würde unter dem herrschenden gesellschaftlichen Druck
diesen demütigenden hormonellen Zustand vor ihrem Liebsten verbergen.
Nathan (Tim Robbins) ahnt daher nichts von den stoppeligen Seiten seiner
neuen Flamme, ist aber andererseits auch viel zu sehr mit den eigenen Leichen
im Keller beschäftigt. Der Wissenschaftler macht Experimente mit
Mäusen, denen er Tischmanieren beibringt. Versagen die Tiere beim Verzehr
vom grünen Salat mit Essbesteck, setzt es zur Strafe eine gehörige
Portion Elektroschocks.
Bei einem Ausflug aufs Land entdecken Nathan und Lila in einem Wald
einen Mann (Rhys Ifans, der Nerd, der sich in Unterhose der Meute der Paparazzi
vor Hugh Grants blauer Wohnungstür in "Notting Hill" präsentiert),
der sein ganzes Leben in der Wildnis verbrachte und von seinem Vater wie
ein Affe erzogen wurde. Sie nehmen in mit in die Zivilisation, kleiden ihn
ein, setzen ihn in eine durchsichtige Gummizelle und nennen ihn Puff. Von
nun an ergeht es ihm wie den kleinen, weißen Mäusen. Jede Abweichung
vom normalen menschlichen Verhalten wird bestraft. Puff trägt ein Halsband,
mit dem Nathan seine Reaktionen kontrolliert. Mit Elektroschocks und einer
Bildung wie aus der Encyclopedia Britannica zieht der gestörte
Wissenschaftler seine eigene Kreatur heran. Doch einmal mehr ist Frankensteins
Monster ausgebuffter als sein Schöpfer.
Man fühlt sich abwechselnd wie in der berühmten Gothic-Novelle
"Frankenstein" von Mary Shelley, einer Vollrausch-Version von "Leoparden
küsst man nicht" oder dem nicht ganz jugendfreien Remake von "Schneewittchen
und die sieben Zwerge", die hier wie kleine, weiße Mäuse und ein
großer, affenähnlicher Mann aussehen. Letzterer wird von einem
ausgeprägten Geschlechtstrieb gesteuert, was die Angelegenheit ab und
an in Richtung schlüpfriger Burleske abrutschen lässt.
Die kämpferisch-zarte Königstocher aus "Herr der Ringe II
+ III", die australische Schauspielerin Miranda Otto, bringt das Kunststück
fertig, sich als rollige französische Assistentin zu gerieren, die ihren
Herrn und Meister Nathan verführen will.
Nach 96 Minuten, das sei erwähnt, denn wo erfährt man heutzutage
die Gnade, in anderthalb Stunden gut unterhalten zu werden, fühlt man
sich wie durch die Mangel gedreht und sieht die beiden Kreativen, Gondry
und Kaufman, mit einer Pulle Bier auf der Couch sitzen, beim Ausspinnen
abgefahrener Storys, die einen den Schweiß auf die Stirn und in die
dicken Haarbüschel unter den Achseln treiben.
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