Die klaustrophobischen Anfälle bleiben aus. Der Sauerstoffanteil
der Luft liegt deutlich über zwei Prozent. Und man kann sogar in seine
Tasche greifen, ohne mindestens drei Umstehende zu verletzen. Das alles ist
neu beim Kinofest Lünen. Das jährliche Festival für deutsche
Filme ist umgezogen vom engen, stickigen, überaus charmanten Schachtelkino
Lichtburg ins neu gebaute Multiplex Cineworld.
Hier lächeln Kartenabreißer und Popcornverkäuferinnen
wie überall, es herrscht Corporate Identity und ein Hauch von Neonlicht.
Wer aufgrund dessen gleich den Untergang der Kinokultur ausruft, kann nur
unheilbarer Romantiker sein oder nicht ganz bei Trost. Denn in Lünen
beginnt mit dem 13. Kinofest neben dem Zeitalter der Bewegungsfreiheit auch
jenes der guten Bild- und Tonqualität sowie der bequemen Kinosessel.
Das hat viel für sich, Lichtburg hin oder her.
Atmosphäre, sagt Mitorganisatorin Ute Teigler gleich zur
Eröffnung, hänge ohnehin nicht von Räumen ab, sondern von
Menschen. Und was die betrifft, bleibt das Kinofest Lünen wirklich
einzigartig herzlich, kommunikativ und unkompliziert. Wo trifft man sonst
Nicolette Krebitz um zwei Uhr nachts im Stadtbad zum Spontan-Interview?
Übrigens im Anschluss an die traditionelle Schwimmstaffel, zu der jeder
prominente und nicht-prominente Teilnehmer das berühmte Kinofest-Handtuch
geschenkt bekommt. Man stelle sich ähnliches mal bei der Berlinale vor.
Lustig, oder?
Nicolette Krebitz schwimmt übrigens nicht mit, doch ihr
Regiedebüt Jeans gewinnt den Filmpreis der Stadt Lünen.
Man gönnt der sympathischen Schauspielerin den Erfolg, zumal sie ihre
Vision eines echten deutschen Films mit viel Leidenschaft und
Intelligenz vertritt. Statt verquaste Drehbuchzeilen aufzusagen, improvisieren
die Schauspieler in Jeans ihre Dialoge, einer hauchdünnen
Plotlinie folgend, die von der Suche nach Liebe, Wärme und Sex handelt.
Ich will die Menschen zeigen, wie sie sind, sagt Krebitz im
Interview. Man sieht sonst immer nur, wie sie sein wollen.
Der Versuch ist aller Ehren wert, zumal gerade in deutschen Filmen
oft die Drehbuchseiten lauter knistern als das Popcorn im Saal. Doch das
Experiment Jeans scheitert auf ganzer Linie, der Film wirkt wie
eine Aneinanderreihung von Improvisationsübungen. Die Menschen, wie
sie sind, sieht man selten, dafür Marc Hosemann, Oscar Melzer, Jana
Pallaske, Benno Fürmann und andere bei eitlen Posen und gezwungenen
Spielchen eigens für die Kamera. Krebitz findet manchmal starke Bilder,
aber die verhüllen kaum die inhaltliche Einöde.
Kartoffelschälen ist interessanter, meint während des
Films ein Zuschauer, und das trifft die Sache ganz gut.
Auf der Suche nach dem Echten, Teil 1: Kinowelten und schwäbische
Dörfer
Andere Beiträge des Festivals sind erfolgreicher auf der Suche
nach dem Echten, zum Beispiel die zwei Dokumentarfilme im Wettbewerb.
Der eine, Douglas Wolfspergers Bellaria - So lange wir leben
(der hinter Jeans in der Publikumsgunst auf Platz zwei landete),
begleitet eine kleine Schar Wiener Senioren, die Tag für Tag ein altes
Kino besuchen, in dem nur Heile-Welt-Filme aus der Blütezeit der Ufa
zu sehen sind. Der andere, Konstantin Faigles Out of Edeka, spielt
in und mit der vermeintlich heilen Welt eines kleinen Gemischtwarenladens
in der schwäbischen Provinz.
Das Geschäft gehörte Faigles Eltern, er ist dort groß
geworden und kehrt mit der Kamera zurück, um den langsamen Tod des kleinen
Ladens zu dokumentieren. Ein bisschen wehmütig klingt Faigles Stimme
aus dem Off, während die Kamera die Lebensmittelregale erforscht und
in Räume vordringt, in denen alte Kleidungsstücke und
Karnevalsutensilien lagern, die in ihrer Scheußlichkeit gegen heute
geltendes Menschenrecht verstoßen. Mit jeder dieser skurrilen Szenen,
jeder Kamerafahrt, jedem schnoddrig dahingeschwäbelten Satz lehrt Faigle,
der den Laden liebt, uns, den Laden zu lieben.
Und als wir das gerade fröhlich tun wollen und sich gleichzeitig
die kritische Stimme im Kopf fragt, ob hier nicht jemand seine Kindheit
verklärt, packt Faigle den Hammer aus. Wir erfahren von den dunklen
Seiten des Ladenlebens, als der Vater zu viel trank und die Mutter schlug,
als Sohn Konstantin dem Druck der Eltern nicht mehr gewachsen war und einige
Wochen in der Psychiatrie verbrachte. Wir erfahren von Grausamkeit und Dummheit
in Faigles schwäbischem Nest, das jedes Dorf Deutschlands sein
könnte.
Faigle, der mit diesem Film unerhört viel von sich selbst und
seiner Familie preisgibt, erzählt zwar vom Leben im Laden, doch er hat
immer die Welt im Blick. Der Edeka-Pressesprecher, der umständlich
erklärt, warum kleine Kaschemmen sich für die große Marktkette
nicht mehr rentieren, berichtet, ohne es zu wollen, von einem großen
Verlust: Die Identität der Gesellschaft und ihrer Individuen verliert
sich in endlosen Supermarkt-Gängen, wird auf komplizierten
Selbstbedienungswaagen für zu leicht befunden.
Out of Edeka, wohl einer der skurrilsten Filme der letzten
Jahre, macht wütend und traurig, paart Verachtung mit Respekt, Trübsal
mit Hoffnung, und ist immer wieder brüllend komisch. Vor allem, wenn
Faigle, alle Regeln des Dokumentarfilms missachtend, seltsame Eingebungen
und Tagträume zu Bildern werden lässt. Er steht als Torero im Feld
und singt ein spanisches Volkslied oder fährt als Riesenbaby durch den
Laden. Wenn alle Zuschauer diesen schrägen Humor teilten, wäre
Out of Edeka vielleicht Festivalsieger. Und ein würdiger
allemal.
Hier geht's weiter:
Auf der Suche nach dem Echten,
Teil 2: Boxer, Hacker, Killer
zur Jump Cut Startseite |