Filmfest Lünen 2002

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Das Zeitalter der Bewegungsfreiheit, 2. Teil

Das 13. Kinofest Lünen blieb auch nach dem Umzug ins Multiplex Cineworld ein herzlich unkompliziertes Erlebnis
Bericht von Christoph Elles

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zum ersten Teil des Lünen-Berichts

Auf der Suche nach dem Echten, Teil 2: Boxer, Hacker, Killer

Der zweite Film, der die höchsten Lorbeeren Lünens verdient hätte, sucht Echtheit auf sehr schmerzhafte Weise. Beim Ansehen von Kai S. Piecks Doku-Drama „Ein Leben lang kurze Hosen tragen“ könnte man beinahe glauben, der Kindermörder Jürgen Bartsch sei auferstanden. Dabei starb der Killer, der in den Sechzigern im Ruhrgebiet vier kleine Jungen bestialisch getötet und missbraucht hatte, im Jahr 1976 während seiner Kastration im Gefängniskrankenhaus.

Im Film spielen, nein: leben nun zwei junge Darsteller den Mörder. Der eine, Sebastian Urzendowsky („Paul is dead“), ist der Teenager Bartsch, ein ungeliebtes, in jeder Hinsicht unerhörtes Kind im grauen Deutschland der Sechziger. Die Stille ist das vorherrschende Geräusch im Hause Bartsch, und Jürgens Begierden, Grausamkeiten und schließlich seine Morde sind nichts weiter als Schreie: Hier bin ich, ich lebe, bemerkt mich denn niemand? Urzendowsky spielt das großartig, ängstlich und beängstigend zugleich.

Der zweite, ältere Bartsch wird verkörpert von Tobias Schenk („Harte Jungs“). Abgeklärt, selbstmitleidig, eitel, ein hochintelligenter junger Mann, der nie gelernt hat zu fühlen, sitzt Schenk auf einem Gefängnisstuhl und spricht seine Lebensbeichte in eine Videokamera. Es sind Bartschs Worte, die aus seinem Mund kommen, entnommen aus Briefen, die der Killer aus dem Knast an den Psychiater Paul Moore schrieb.

Über 1000 Briefe waren es, aus denen Moore zwei Bücher gemacht hat und Pieck nun den Film. Moore, inzwischen ein alter, gebrechlicher Herr, sieht Piecks Film in Lünen zum ersten Mal und zeigt sich „tief bewegt“. Das geht wohl fast allen im Publikum so. Piecks Film sucht und findet das Opfer Bartsch in der Bestie Bartsch, ohne küchenpsychologische Verklärung oder Moralkeule. Was wir von diesem Menschen halten, bleibt ganz uns überlassen, und dieser Totalverzicht auf Schwarz-Weiß-Malerei ist vielleicht die höchste Form filmischer „Echtheit“.

Ohne das Konzept überstrapazieren zu wollen: Es gibt noch viele weitere Filme in Lünen, die genau nach jenem Echten, Wirklichen, Ungeschminkten, Unverfälschten suchen, das Krebitz mit „Jeans“ so gerne gefunden hätte. Der Regisseur Torsten Löhn hat auf seiner Suche nach Wirklichkeitsnähe für das Teenager-Drama „Paule und Julia“ 8000 Schüler gecastet. „Das Publikum soll vergessen, dass es einen Film sieht“, sagt Löhn im Interview und stellt sich damit bewusst gegen die Auffassung eines Dominik Graf.

Und tatsächlich: Der 15-jährige Herumtreiber Paule (Marlon Kittel) und sein Freund Arnel (Arnel Taci) sprechen in Löhns Film nicht wie Schauspieler, sondern wie Jugendliche in Berlin, die rumhängen, klauen und sonstigen Blödsinn machen. Der Plot, in dessen Verlauf Paule sich in die drei Jahre ältere Julia (Oona Devi Liebich) verliebt und mit einer bosnischen Gang anlegt, bleibt dabei leider auf den Bahnen eines durchschnittlichen „Tatort“-Krimis. Und dem glaubt man spätestens beim brutalen Finale nichts mehr.

Ebenfalls im kriminellen oder halbkriminellen Milieu angesiedelt sind Marc Ottikers Thriller-Experiment „1/2 Miete“ und Züli Aladags Boxerdrama „Elefantenherz“. In ersterem dringt ein Computerhacker auch im wirklichen Leben in Privatsphären ein, indem er durch fremde Apartments schleicht und den Bewohnern Nachrichten hinterlässt - eine schöne Variation des uralten Themas vom gefährlichen Eindringling. Denn der Hacker Peter (Stefan Kampwirth) kommt nicht als Killer, sondern als Kommunikator. Er will Kontakt zu Menschen aufnehmen, die schon lange niemandem mehr etwas zu sagen haben.

Wo „1/2 Miete“ trotz seines schönen Themas letztlich unter der eigenen Sperrigkeit leidet, unter der trotzigen Weigerung des Kunstfilmers, populär zu erzählen, scheitert „Elefantenherz“ am übermäßigen Schielen auf den amerikanischen Film. Was als glaubwürdiges Underdog-Drama in Duisburg beginnt, endet im Land der Sportlerfilm-Klischees. Nachwuchs-Boxer Marko (Daniel Brühl) schafft den Absprung zur großen Karriere und löst seinen doppelten Vaterkonflikt mit Manfred Zapatka und Jochen Nickel. Schade, dass Aladag seine wunderbaren Milieu-Schilderungen an eine so konventionelle Story verschwendet.

Auf der Suche nach großen Kino: Rettung aus dem Ruhrgebiet

Wie man konventionelle Geschichten originell und mitreißend erzählen kann, hatte der Lüner Vorjahressieger „Was tun wenn’s brennt“ gezeigt. Im Grunde war Gregor Schnitzlers Film Hollywood-Kino aus dem Herzen Berlins, aber durch das grunddeutsche Thema und Schnitzlers Mut zu großen Gefühlen und starken Bildern, ist das keinesfalls als Beschimpfung zu verstehen.

Zumal in Lünen beim 13. Kinofest solch große Publikumsfilme fehlten, beinahe jedenfalls. Im Wettbewerb kümmerte lediglich Philipp Stölzls „Baby“ vor sich hin, eine wilde, durchweg unterhaltsame Mischung aus „Lolita“, Gangster-Groteske und Almodóvar. Und im neu eingeführten „Focus Niederlande“ stach „Die Austern von Nam Kee“ aus der Programmkino-Masse hervor. Polle de Pimentels schnelle Amour fou zwischen einem naiven Kleingauner und einer Stripperin beruft sich explizit auf große amerikanische Vorbilder, erreicht sie natürlich nie, lässt aber immerhin keinen Moment Langeweile aufkommen.

Und dann, dann kam die Abschluss-Gala und mit ihr ein wunderbarer Beweis, dass richtig großes Kino in Deutschland möglich ist. Fatih Akins „Solino“ über eine italienische Gastarbeiterfamilie, die in Duisburg die erste Pizzeria eröffnet, enthält mehr Wehmut, Sehnsucht, Fernweh und Lebensfreude als jeder Wettbewerbsfilm des Festivals. Akin sucht nicht nach dem Echten, er philosophiert nicht lange über die eigenen Ziele, er macht nach „Kurz und schmerzlos“ und „Im Juli“ einen weitere Film aus dem Bauch und trifft wieder mitten ins Herz.

Am Anfang des Festes haben die Organisatorinnen Ute Teigler und Elfriede Schmitt beteuert, man wolle die „Seele des Festivals“ von der Lichtburg ins Cineworld tragen. Spätestens mit „Solino“ ist sie dort angekommen.

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