zum ersten Teil des
Lünen-Berichts
Auf der Suche nach dem Echten, Teil 2: Boxer, Hacker,
Killer
Der zweite Film, der die höchsten Lorbeeren Lünens verdient
hätte, sucht Echtheit auf sehr schmerzhafte Weise. Beim Ansehen von
Kai S. Piecks Doku-Drama Ein Leben lang kurze Hosen tragen
könnte man beinahe glauben, der Kindermörder Jürgen Bartsch
sei auferstanden. Dabei starb der Killer, der in den Sechzigern im Ruhrgebiet
vier kleine Jungen bestialisch getötet und missbraucht hatte, im Jahr
1976 während seiner Kastration im Gefängniskrankenhaus.
Im Film spielen, nein: leben nun zwei junge Darsteller den Mörder.
Der eine, Sebastian Urzendowsky (Paul is dead), ist der Teenager
Bartsch, ein ungeliebtes, in jeder Hinsicht unerhörtes Kind im grauen
Deutschland der Sechziger. Die Stille ist das vorherrschende Geräusch
im Hause Bartsch, und Jürgens Begierden, Grausamkeiten und schließlich
seine Morde sind nichts weiter als Schreie: Hier bin ich, ich lebe, bemerkt
mich denn niemand? Urzendowsky spielt das großartig, ängstlich
und beängstigend zugleich.
Der zweite, ältere Bartsch wird verkörpert von Tobias Schenk
(Harte Jungs). Abgeklärt, selbstmitleidig, eitel, ein
hochintelligenter junger Mann, der nie gelernt hat zu fühlen, sitzt
Schenk auf einem Gefängnisstuhl und spricht seine Lebensbeichte in eine
Videokamera. Es sind Bartschs Worte, die aus seinem Mund kommen, entnommen
aus Briefen, die der Killer aus dem Knast an den Psychiater Paul Moore
schrieb.
Über 1000 Briefe waren es, aus denen Moore zwei Bücher gemacht
hat und Pieck nun den Film. Moore, inzwischen ein alter, gebrechlicher Herr,
sieht Piecks Film in Lünen zum ersten Mal und zeigt sich tief
bewegt. Das geht wohl fast allen im Publikum so. Piecks Film sucht
und findet das Opfer Bartsch in der Bestie Bartsch, ohne
küchenpsychologische Verklärung oder Moralkeule. Was wir von diesem
Menschen halten, bleibt ganz uns überlassen, und dieser Totalverzicht
auf Schwarz-Weiß-Malerei ist vielleicht die höchste Form filmischer
Echtheit.
Ohne das Konzept überstrapazieren zu wollen: Es gibt noch viele
weitere Filme in Lünen, die genau nach jenem Echten, Wirklichen,
Ungeschminkten, Unverfälschten suchen, das Krebitz mit Jeans
so gerne gefunden hätte. Der Regisseur Torsten Löhn hat auf seiner
Suche nach Wirklichkeitsnähe für das Teenager-Drama Paule
und Julia 8000 Schüler gecastet. Das Publikum soll vergessen,
dass es einen Film sieht, sagt Löhn im Interview und stellt sich
damit bewusst gegen die Auffassung eines Dominik Graf.
Und tatsächlich: Der 15-jährige Herumtreiber Paule (Marlon
Kittel) und sein Freund Arnel (Arnel Taci) sprechen in Löhns Film nicht
wie Schauspieler, sondern wie Jugendliche in Berlin, die rumhängen,
klauen und sonstigen Blödsinn machen. Der Plot, in dessen Verlauf Paule
sich in die drei Jahre ältere Julia (Oona Devi Liebich) verliebt und
mit einer bosnischen Gang anlegt, bleibt dabei leider auf den Bahnen eines
durchschnittlichen Tatort-Krimis. Und dem glaubt man spätestens
beim brutalen Finale nichts mehr.
Ebenfalls im kriminellen oder halbkriminellen Milieu angesiedelt sind
Marc Ottikers Thriller-Experiment 1/2 Miete und Züli Aladags
Boxerdrama Elefantenherz. In ersterem dringt ein Computerhacker
auch im wirklichen Leben in Privatsphären ein, indem er durch fremde
Apartments schleicht und den Bewohnern Nachrichten hinterlässt - eine
schöne Variation des uralten Themas vom gefährlichen Eindringling.
Denn der Hacker Peter (Stefan Kampwirth) kommt nicht als Killer, sondern
als Kommunikator. Er will Kontakt zu Menschen aufnehmen, die schon lange
niemandem mehr etwas zu sagen haben.
Wo 1/2 Miete trotz seines schönen Themas letztlich
unter der eigenen Sperrigkeit leidet, unter der trotzigen Weigerung des
Kunstfilmers, populär zu erzählen, scheitert
Elefantenherz am übermäßigen Schielen auf den
amerikanischen Film. Was als glaubwürdiges Underdog-Drama in Duisburg
beginnt, endet im Land der Sportlerfilm-Klischees. Nachwuchs-Boxer Marko
(Daniel Brühl) schafft den Absprung zur großen Karriere und löst
seinen doppelten Vaterkonflikt mit Manfred Zapatka und Jochen Nickel. Schade,
dass Aladag seine wunderbaren Milieu-Schilderungen an eine so konventionelle
Story verschwendet.
Auf der Suche nach großen Kino: Rettung aus dem
Ruhrgebiet
Wie man konventionelle Geschichten originell und mitreißend
erzählen kann, hatte der Lüner Vorjahressieger Was tun
wenns brennt gezeigt. Im Grunde war Gregor Schnitzlers Film
Hollywood-Kino aus dem Herzen Berlins, aber durch das grunddeutsche Thema
und Schnitzlers Mut zu großen Gefühlen und starken Bildern, ist
das keinesfalls als Beschimpfung zu verstehen.
Zumal in Lünen beim 13. Kinofest solch große Publikumsfilme
fehlten, beinahe jedenfalls. Im Wettbewerb kümmerte lediglich Philipp
Stölzls Baby vor sich hin, eine wilde, durchweg unterhaltsame
Mischung aus Lolita, Gangster-Groteske und Almodóvar.
Und im neu eingeführten Focus Niederlande stach Die
Austern von Nam Kee aus der Programmkino-Masse hervor. Polle de Pimentels
schnelle Amour fou zwischen einem naiven Kleingauner und einer Stripperin
beruft sich explizit auf große amerikanische Vorbilder, erreicht sie
natürlich nie, lässt aber immerhin keinen Moment Langeweile
aufkommen.
Und dann, dann kam die Abschluss-Gala und mit ihr ein wunderbarer
Beweis, dass richtig großes Kino in Deutschland möglich ist. Fatih
Akins Solino über eine italienische Gastarbeiterfamilie,
die in Duisburg die erste Pizzeria eröffnet, enthält mehr Wehmut,
Sehnsucht, Fernweh und Lebensfreude als jeder Wettbewerbsfilm des Festivals.
Akin sucht nicht nach dem Echten, er philosophiert nicht lange über
die eigenen Ziele, er macht nach Kurz und schmerzlos und Im
Juli einen weitere Film aus dem Bauch und trifft wieder mitten ins
Herz.
Am Anfang des Festes haben die Organisatorinnen Ute Teigler und Elfriede
Schmitt beteuert, man wolle die Seele des Festivals von der Lichtburg
ins Cineworld tragen. Spätestens mit Solino ist sie dort
angekommen.
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