Das indische Bollywood-Kino erzähle stets von wohlhabenden
Kreisen, konstatiert der in Berlin lebende Regisseur Veit Helmer. Die
schönen Reichen tanzen und singen, opulenter Kitsch feiert Orgien. Der
deutsche Film, wie er sich am Wochenende beim Kinofest Lünen
präsentierte, könnte kaum weiter von einem solchen Ansatz entfernt
sein. Der Publikumspreis Lüdia ging an einen kleinen Dokumentarfilm,
in dem "7 Brüder" aus Mülheim an der Ruhr, geboren zwischen 1929
und 1945, in einem dunklen Studio ihre Familiengeschichte
erzählen.
Auch die übrigen Filme des Festivals bewegen sich fern von Holly-
und Bollywood unter Gestrandeten und Außenseitern, die mit dem
täglichen Überleben und Entkommen beschäftigt sind. Sie fliehen
vor der Polizei oder der Einwanderungsbehörde, in den Alkohol oder die
Religion, aus der Enge ihres öden Alltags oder vor den eigenen Gespenstern.
Selbst Veit Helmers "Tor zum Himmel", das sich mitunter als Bollywood-Hommage
versucht, spielt zwischen Immigranten, ganz unten, in den Katakomben des
Frankfurter Flughafens. Die indische Putzfrau Nisha und der russische
Schwarzarbeiter Alexej dürfen ihre Träume vom besseren Leben dort
immerhin singen und tanzen. Solch märchenhafte, absurde Geschehnisse
reißen viele der Lüner Filmhelden aus ihrer Angst und
Lethargie.
Die Balance zwischen der Tragik der Situation und der Komik der
Ereignisse findet sich auch in den zwei herausragenden Filmen des Festivals.
Dito Tsintsadzes "Schussangst" zeigt lakonisch, wie Zivildienst, unerfüllte
Liebe und ein Scharfschützen-Gewehr zusammen passen. Robert Schwentkes
todtraurig-todlustiger "Eierdiebe" spielt auf einer Krebsstation, wo sich
leichenblasse, kahlgeschorene Chemo-Patienten wie in einem grotesken Maskenball
des Todes bewegen. Tumor ist, wenn man trotzdem lacht.
Filme wie diese passen hervorragend nach Lünen: Sie wirken
ungekünstelt und echt wie das Kinofest selbst, dessen Existenz nach
einem finanziell und organisatorisch schwierigen Jahr vorerst gesichert scheint.
Das 14. Festivaljahr ging gestern mit einer Abschlussgala ("Das Wunder von
Bern") und der Preisverleihung zu Ende. Der Siegerfilm von Sebastian Winkels
erhält neben 5.000 Euro Preisgeld eine englisch untertitelte Fassung,
die im Januar 2004 beim Filmfestival "Berlin & Beyond" in San Francisco
gezeigt wird. Den Preis für den besten Filmtitel erhielt "Schussangst".
Bereits am Donnerstag vergab die Filmstiftung NRW in Lünen den mit 10.000
Euro dotierten Preis der Filmkritik an den Essener Stummfilm-Pianisten Joachim
Bärenz.
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