Hinter einer Badezimmerkachel wartet das Glück in Form einer
kleinen, verstaubten Dose. Mehr als vierzig Jahre altes Spielzeug ist darin,
mit eigener Geschichte natürlich. Und Amélie, die Finderin dieser
nostalgischen Kostbarkeit, läßt das Spielzeug mitsamt seiner kleinen
Geschichte über verschlungene Pfade seinem ehemaligen Besitzer wieder
zukommen. So leicht ist es, jemanden glücklich zu machen, und ein
Gefühl der inneren Zufriedenheit hat Amélie Poulain (eine Entdeckung:
Audrey Tautou), die verschmitzte, verträumte, aber durchaus etwas
verschrobene Kellnerin aus dem Pariser Montmartre-Viertel, dabei auch noch.
..
Amélie beginnt schließlich, alle Menschen um sich herum
glücklich zu machen: Sie verkuppelt den frustrierten Cafégast
mit der hypochondrischen Tabakwarenverkäuferin, rächt sich für
den etwas langsamen Gemüsehändler an dessen tyrannischem Chef und
beeinflußt auf seelenbalsamierende Weise auch noch diverse andere
Schicksale. Daß sie, die als Kind ihre Mutter durch einen
herabstürzenden Sellbstmörder verlor und von ihrem Vater keine
liebevolle Zuneigung erfuhr, mit ihrem Hang zum zwanghaften Glückbescheren
auch an ihrer eigenen yellow brick road baut, bemerkt sie natürlich
erst als letzte. Ihr eigenes Glück ist aus Fleisch und Blut, männlich
und ebenfalls ein Träumer. Aber bis Nino Quincampoix (Mathieu Kassovitz),
der mißlungene Passfotos an Automaten aufsammelt, um sie in Fotoalben
zu kleben, sie so glücklich machen kann, wie sie andere, bedarf es noch
einiger Zufälle...
Es ließen sich unzählige witzige, traurige oder phantastische
Details aufzählen, die Amélie" zu dem Film machen, der
er ist. Er ist eine märchenhafte Reflexion über die Dinge, die
viel zu oft außerhalb des Alltagsfokus liegen. Die kleinen Dinge
nämlich, die das Leben ganz unmerklich bereichern und in ihrer Summe,
die Menschen bei aller Traurigkeit und allem Leid, die das Leben erschweren,
immer wieder auf die schöne und positive Seite blicken lassen können.
In diesem banalen, wie auch essentiellen Gedanken liegt die Kraft dieses
Filmes, der mit Jean-Pierre Jeunet von einem Regisseur gemacht wurde, der
in allen seinen bisherigen, sehr düsteren Filmen stets einen Faible
für Details hatte, die unter Umständen in einer Kettenreaktion
auch schon mal Größeres auslösen können. Ähnlich
verhält es sich auch in Amélie".
.
Jeunet, bekanntgeworden durch Delicatessen" (in Zusammenarbeit
mit Mark Caro), zu Unrecht verissen für Die Stadt der verlorenen
Kinder" (ebenfalls mit Caro) und für Alien Die Wiedergeburt"
nach Amerika gelockt, hat ein in Frankreich Kassenrekorde brechendes Meisterwerk
geschaffen, dessen leichter Zauber und dessen wunderbare Poesie nicht
annährend mit Worten erfasst werden können, das vielmehr in seinem
Reichtum erlebt werden muß. So vereint Amélie" all das,
was man bereits aus den anderen Filmen Jeunets kennt - eine schier
überbordende Phantasie, visuellen Einfallsreichtum und ein stark
angeschrägtes, aber sympathisches Figurenkabinett (mit einigen bereits
aus Jeunet-Filmen bekannten Gesichtern wie Rufus oder Dominique Pinon).
Jeunet experimentiert hier viel. Es gibt Zeitraffer und Zeitlupen,
schwarz-weiß Bilder folgen auf grelle Farben, dann wiederum sind Polaroids
zu sehen, auf denen mit einem Filzstift munter besondere Details gekennzeichnet
werden. Allerdings kommen der Geist und die menschliche Wärme, die in
der genialen Bilderwelt der Stadt der verlorenen Kinder" angeblich
nicht zu spüren waren, bei diesem Wunder eines Filmes nicht abhanden.
Es gibt bei der ganzen positiven visuellen Unordnung und den zahlreichen
visuellen Tricks keinen technischen Overkill, der die organische Lebendigkeit
dieses Filmes zu kühler Sterilität reduzieren könnte. Nein,
Amélie bereitet Glück und macht überglücklich, ganz
gleich, ob man ihr im Montmartre-Viertel begegnet oder in einem Kinosaal.
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