Dominik Graf ist das Paradox eines intellektuellen Regisseurs, dem
es mit aller Kraft seiner Wörter, Bilder und Töne ausgerechnet
um Emotionen zu tun ist. Stets geht er dabei aufs Ganze und es ist kein Wunder,
dass er immer wieder an Grenzen gelangt. An denen einem Hören und Sehen
vergeht, im glücklichen Fall. Oder an denen man das Pathos kaum mehr
ertragen mag, vielleicht ist das der unglückliche Fall. Andererseits
nötigt er einen gerade an den Stellen, an denen einem Bedenken kommen,
zu etwas, das den meisten bisherigen Beiträgen des Berlinale-Wettbewerbs
nicht einmal als Möglichkeit ihres Filmemachens bewusst ist: zum Nachdenken
über das Erzählen selbst, über die Willkür von
Zusammenhängen und nicht zuletzt über die Darstellbarkeit von
Gefühlen.
Psychologie im herkömmlichen Sinne, als konsequente und
nachbuchstabierbare Motivierung der Figuren, kann nicht die Lösung sein,
ist sie für Dominik Graf auch nicht. Wer seine normalen, auf Realismus
gepolten Sehgewohnheiten an Der Felsen heranträgt und nicht bereit
ist, sie aufzugeben, wird keinen Zugang zu dem Film bekommen, wird die
Geschehnisse nur entsetzlich unplausibel, die Handlungsweisen der Figuren
unverständlich finden. Dabei müssten einen schon die ersten
Einstellungen auf die Spur setzen, die der Film konsequent verfolgen wird.
Ein schwarzer Straßenhändler breitet diverse Gegenstände
vor sich aus und aus dem Off werden wir auf die Möglichkeitsform des
Geschichtenerzählens eingeschworen: Nehmen wir an, es ist ein Spiel,
nehmen wir an, diese Geschichte wird von einem Gegenstand zum nächsten
erzählt, folgt einer Logik des Zufalls, die Markierung alternativer
Entwicklungsmöglichkeiten inklusive.
Diese Markierung erfolgt aus dem Off, mit der verführerischen
Erzählerstimme von Jeanette Hain. Die Stimme liegt neben der Spur
der reinen Erzählung, gibt mehrmals die radikale Alternative an: einmal
jagt Katrin Engelhardt (Karoline Eichhorn), die Heldin des Films, Malte,
dem jungen Mann hinterher, dem sie zufällig begegnet ist, mit dem sie
eine so radikale wie unerklärliche Liebe verketten wird und die
Erzählerin erklärt: Es gibt zwei Straßen in dem korsischen
Dorf. Nimmt sie die falsche, wird die Geschichte von Katrin und Malte zu
Ende sein. Sie wird die richtige nehmen, von selbst aber versteht sich das
nicht. Schon zuvor hat der Film viele unberechenbare Wendungen genommen.
Er beginnt als die Erzählung von einer zu Ende gehenden außerehelichen
Affäre, nimmt eine kühne Abzweigung zum Erotikdrama, bis dann Malte
und Katrin einander begegnen, sich verfolgen, sich verlieren, sich wieder
finden werden. Nicht auf die Verbindungen und Anschlüsse kommt es an,
sondern auf die Szenen höchster Intensität, in denen Graf die Bilder,
die Tonspur (die weit über den Musik-Score hinaus ein Eigenleben
führt), das atemberaubende Spiel seiner Hauptdarsteller zu Momenten
selten gesehener Suggestivität verschweißt.
Zum ersten Mal in seiner Karriere hat Dominik Graf bei Der Felsen
mit der digitalen Videokamera gearbeitet, nicht ganz freiwillig, wie er in
der Berlinale-Pressekonferenz erzählt: kurz vor Drehbeginn stellte sich
heraus, dass das Budget für die geplante 35mm-Arbeit nicht reichen
würde, also haben sich Graf und sein exzellenter Kameramann Benedict
Neuenfels zum Dogma-Experiment entschlossen. Heraus gekommen ist, Originalton
Graf, ein "Urlaubsfilm mit Sinfonie-Begleitung" (Musik: Dieter Schleip),
der in radikaler Weise die Beweglichkeit der kleinen Kamera nutzt. Dabei
hat sich die in Grafs Fernsehfilm Der Skorpion bereits auf die Spitze
getriebene Zersplitterung des Erzählens noch einmal verschärft.
Die Unschärfe vieler Bilder, ihre Rätselhaftigkeit, das grobe Korn
und die rasch verfliegenden Fetzen sind ebenso bewusstes Kalkül wie
die Sprünge in der Handlung, die Radikalität im Verzicht auf
psychologische Auflösungen. Kein Wunder, dass Graf, wie er in der
Pressekonferenz versichert, nie wieder mit einer konventionellen Kamera drehen
will. In gewisser Weise ist Der Felsen ein in den Wettbewerb
geschmuggelter Experimentalfilm, eine Zumutung in vieler Hinsicht, ein Wagnis
nicht ohne Längen und nicht ohne kurze Momente, in denen er aus dem
Gleis gerät. Dennoch ist es ein grandioser Film, der die bisher gezeigten
Konkurrenten um den Goldenen Bären bei weitem überragt.
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