Kaum eines der Elemente, die in Henry James' Erzählung eine Rolle
spielen, hat Dominik Graf ausgelassen: die Affinität, die sich zwischen
zwei Personen herstellt über ihr zweites Gesicht: sie haben den Tod
gesehen in der Schein-Gestalt eines Menschen, der fern von ihnen just in
der Stunde der Erscheinung gestorben ist. Die beiden, einander vertraut aus
Erzählungen, eng verknüpft über die Gestalt des Dritten (bei
James ist es die Frau, die erzählt), begegnen sich nie bis zum Ende,
in dem sich das Mysterium - unauflösbar - erfüllt, sie sehen einander
in der Stunde seines Todes. Mit hineingespielt wird das bereits in der Vorlage
unerläutert damit verbundene Motiv von beider Scheu vor dem fotografischen
Bild ihrer selbst. Sie, die Geister gesehen haben, sind selber Geister. (Und
Graf fügt einen Krimisubplot hinzu, bei dem man sich schon fragt, wozu
er ihn braucht - außer zur Motivation des Todes. Und wozu braucht er
die?)
Graf freilich hat die Geschichte umgesiedelt, von der Welt der Erwachsenen
in die des Erwachsenwerdens. Es sind unterschiedliche symbolische Ordnungen
in die einzutreten hier misslingt, wenngleich es sich in beiden Fällen
um eine Ordnung der Realität handelt, die auf der Unterscheidbarkeit
von Wirklichkeit und Traum, von Geistern und tatsächlich existenten
Personen fußt. Diese Unterscheidbarkeit steht und bleibt in Frage,
mit tödlichen Folgen: bei James kann aufgrund der Begegnung die Ehe
der Überlebenden nicht zustande kommen, der Mann wird, auf immer gezeichnet
vom Riss in seiner Wahrnehmung, sterben (falls wir der Wahrnehmung der
Ich-Erzählerin glauben wollen). Es ist nur zu konsequent, dass Graf
diese Geschichte, als Geschichte zweier Königskinder, die über
diesen Abgrund der Verweigerung des Realitätsprinzips nicht zueinander
gelangen, an eine andere Schwelle verlegt: jenes rite de passage,
der die erste Liebe ist.
Die Passage findet nicht statt: für Billie und für Arthur.
Die Tote gesehen haben und im Tod nur sich sehen können, finden einzig
im Tod zueinander. Der Überlebende wird erwachsen werden über die
Leiche dessen hinweg, was aus dem zeitlichen Abstand sich so zur
unglücklichen Erfahrung verkleinert. Wenn Gregor vom
Füreinander-Bestimmtsein redet, handelt es sich um eine blinde - aber,
wenn man so sagen mag, realitätstüchtige - Verkennung der
Verhältnisse, denn füreinander bestimmt und todgeweiht zugleich
sind Billie und Arthur. Graf hat, dem Drama der Liebe - mit diversen
Realismusmarkern im Dialog, in den Sexszenen - mehr Raum gebend als der Struktur
ihrer hier fundamentalen Störung (James macht es umgekehrt), die Beziehung
zwischen Gregor und Billie ins Zentrum gestellt und das Problem so
konventionalisiert: die Geschichte einer unglücklichen Liebe unter
Heranwachsenden. Dass Gregor seinen Glauben an die romantische Liebe nicht
aufgibt, spricht geradezu für dessen gerade nicht
realitätsstörende Trivialität. (Was nicht heißen muss,
dass Graf uns das nicht wirklich weismachen will.)
Dass Dominik Graf seinen Film in digitalen Videobildern erzählt,
ist nicht ohne Ironie. Das Authentizitätsversprechen, das einem gelegentlich
als "Dogma" dieser Bilder einzureden versucht wird (nicht von den
"Dogma"-Erfindern, die um die Künstlichkeit der neuen Natürlichkeit
gut wussten), erweist sich hier als schlechter Witz. Wir sehen Gespenster,
wenigstens: eines, die Freundin im Spiegel, in der Stunde des Todes. Es ist
wie in der um 1900 florierenden Geisterfotografie (auf die James'
Erzählung reagieren dürfte): technische "Fehler" produzieren
den Geist als das, was über das hinaus, was man
als Realität kennt, auch noch da sein könnte. Ans Licht
gebracht oder produziert durchs Medium. Das "schlechte Bild"
der Digitalkamera - körnig, verwaschen, unscharf, wacklig
- ist ein wunderbares Geistermedium und Grafs Film weniger eine Demonstration
(vgl. "Blair Witch") als ein Kommentar. Auch die Verrätselung,
die in der Zoom-Präsentation von Gegenständen als
Schlüsselbildern liegt (hier: die Maske, Kühe, der Schlüssel)
, die sie aber nie ganz aufzuschlüsselt, ist präsent wie im
umstrittenen "Felsen", aber nach
innen gewendet in die Geschichte.
Natürlich, die Kamera bleibt schweigend, aber zeigend
beredt, die extradiegetische Erzählerstimme jedoch
fehlt. Auch so aber erweisen sich diese Bilder als
bloße Köder des Unheimlichen, aufgeladen mit einer Bedeutung,
die der Betrachter sucht und nur im vage Geheimnisvollen ihrer Wiederkehr,
nicht in einer Erklärung zu sich kommen sieht.
Das Rätsel bleibt, als Rätsel, unaufgelöst. In den
Bildern findet Graf ein Finale, das nichts anderes ist als die wunderbare
Umsetzung des bei James schon minutiös beschriebenen Realitätswunsches
in Verbindung mit der Unmöglichkeit, zu einem eindeutigen Ergebnis zu
kommen. In den Splitscreen-Bildern des Simultanen tummeln sich, nur scheinbar
Haltepunkte liefernd (auch die Zeit, ja vor allem die Zeit ist aus den Fugen),
die wie die Bilder digitalen, gleichfalls geistergleichen Zeitanzeigen (der
Timecode): die Einheit des
Filmbilds löst sich auf in der Annäherung an die Geisterstunde,
von der wir - und damit hat Graf , der sonst immer noch ein bisschen subtiler
sein könnte, als er ist, ganz und gar recht - keine Bilder haben. Vom
Tod dann haben wir wieder welche, aber nachträglich: der Film findet,
post festum, in die Ordnung des Erzählens zurück und liefert noch
den Kommentar dessen, der fürs Weiterleben taugt. Und schon deshalb
nichts kapiert hat.
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