Lagaan ist der erste Bollywood-Film, der es regulär in
die amerikanischen und deutschen Kinos schafft, wenn auch, in Deutschland,
vorläufig mit Ach und Krach und nur einer Kopie. Die Oscar-Nominierung
mag geholfen haben, vor allem aber gibt es einen guten Grund zur Hoffnung,
dass der Film als Türöffner auf den westlichen Markt funktionieren
könnte: er ist ein atemberaubendes Meisterwerk, nicht nur nach den
Maßstäben Bollywoods, sondern auch und gerade nach denen des
internationalen Unterhaltungskinos.
Erzählt wird eine im Grunde simple Geschichte. Sie spielt im
Indien des Jahres 1893, die Bauern des Dorfes Champaner leiden unter den
unbarmherzigen Steuerforderungen (in Naturalien, also ein Zehnt: das bezeichnet
das Wort lagaan) der britischen Kolonialmacht. Deren Vertreter Captain Russel,
mit einem Hang zum Wohlleben wie zum Sadismus, demütigt erst den
einheimischen Anführer, mit ihm die Bauern, deren lagaan nach einem
Jahr der Dürre noch einmal angehoben werden soll. Zum Anführer
des Widerstands gegen diese Forderung wird Bhuvan (Superstar Aamir Khan),
der eine absurde Wette Russels akzeptiert: gewinnt das indische Auswahlteam
im Cricket gegen die Engländer, wird der Zehnt auf Jahre hinaus erlassen.
Bei einer Niederlage aber soll er verdreifacht werden.
Im
eigenen, aber besetzten Land also sollen die Dorfbewohner das Spiel der Besatzer
spielen, noch die einzig mögliche Form des Widerstands wird ihnen von
der sich selbstverständlich unverwundbar dünkenden Kolonialmacht
aufgezwunden. Nicht nur deshalb hat Bhuvan im Dorf gegen alle erdenklichen
Widerstände zu kämpfen, aber nach und nach bringt er auch die
widerspenstigsten Charaktere auf seine Seite. Das funktioniert nach dem
bewährten Muster der Helden-Aventiure, von den Rittern der Tafelrunde
über den Zauberer von Oz bis zu den Sieben Samurai: Individuen mit
jeweiligen Stärken und Schwächen werden zum Team, zur Gemeinschaft
geformt und verschworen. Die Figuren werden dabei nicht psychologisierend,
sondern typisierend individualisiert, genau über die Mischung aus
Schwäche und Stärke oder gar die Erkenntnis, dass die scheinbare
Schwäche die wahre Stärke ist.
So klug wie schlicht verhandelt Lagaan hier die Fragen, die sich aller
politische Widerstand zu stellen hat: vor allem die nach den Ein- und
Ausschlussmechanismen, die die eigene Identität regulieren. Das indische
Cricket-Team ist die utopische Gemeinschaft, nach der es klingt.
Religionszugehörigkeit spielt - im Blick auf das gemeinsame Ziel - so
wenig eine Rolle wie das indische Kastensystem. Im pathetischsten Moment
des Films gelingt Bhuvan die Integration des Krüppels, des
Unberührbaren, er verbindet sie mit einer flammenden Botschaft an
Dorfbewohner und Publikum. Selbst der Verräter in den eigenen Reihen
erweist sich - nach einem Moment, in dem Lynchjustiz droht - als integrierbar.
Bhuvan ist der Lenin der (zugegeben: nicht im Ernst revolutionären)
Bewegung, dem zuallererst der Sieg über den Widerstand auf indischer
Seite gelingt, Voraussetzung für den erfolgreichen Kampf im
Cricket-Spiel.
Lagaan verhandelt all das im Medium der unverschämtesten
Form
von
Unterhaltungskino, die die Welt je gesehen hat, eben im Bollywoodfilm. Es
gibt dabei durchaus Vorbilder, insbesondere das Werk des tamilischen Regisseurs
Mani Ratnam, der in den 90er Jahren eine ganze Serie (Roja,
Dil Se,
Bombay) höchst beeindruckender
Polit-Musicals - vielleicht sollte man einfach Politicals sagen -
vorgelegt hat. Dabei ist Lagaan an filmischer Raffinesse (nicht an
Schauwerten) den Werken Ratnams durchaus unterlegen, die Montage ist - mit
einer Ausnahme - wenig aufregend, die Kamera bewegt sich konventionell bis
bieder. Das aber ist ohne Bedeutung: Schwung und Spielfreude, ein
unerhörtes narratives Geschick, exzellente Darsteller auf der indischen
wie der englischen Seite, ja, der perfekte Sinn für die passende Mischung
aus Ernst, Pathos, Ironie, Naivität, Sentiment und Humor, die Bollywood
im Falle des Gelingens so einzigartig macht, sorgen dafür, dass einen
der Film fesselt und bannt, vom Sitz reißt und zu Tränen rührt,
das alles abwechselnd und im unvermerkten gleitenden Übergang.
Das Verhältnis von Indien und England wird dabei thematisch in
einer Doppelgestalt: einerseits als harter Konflikt, als brutale Demütigung
durch die Besatzungsmacht. Hier erfolgt die Auflösung, ganz
märchenhaft natürlich, durch das mehr als eine Stunde des ganzen
Films einnehmende Cricketspiel. Andererseits als die Geschichte einer
Annäherung: Elizabeth, die Schwester von Captain Russell verliebt sich
in Bhuvan, schlägt sich auf die Seite der Einheimischen, wird zur Trainerin
des Cricket-Teams. Bhuvan findet sich so unversehens wieder im Liebesdreieck
zwischen Elizabeth und Gauri, der Dorfschönen, die ihn liebt, deren
Liebe er zu ignorieren vorgibt. Es steckt in der Konstellation eine seltsam
verdrehte Version des Pocahontas-Motivs, der Liebe also zwischen der sanften
Variante des Eroberers und der Einheimischen - hier aber mit vertauschten
Geschlechterrollen.
Ausagiert wird das Dreieck in jenem Formprinzip, das Bollywood dem
Rest der Welt voraushat: den Tanzszenen. Diese sind im Ernst zu nehmenden
Fall, um den es sich hier handelt, keineswegs, wie der erste Blick vermeinen
könnte, den selbständigen Schaueinlagen des Hollywood-Musicals
unmittelbar verwandt, sondern bei aller Eigenständigkeit der Form (und
oft auch des Drehteams) aufs engste verstrickt in die Konstellationen der
Geschichte. In mehr oder weniger allegorischer Weise werden die Konflikte
ausformuliert, Entwicklungen antizipiert, Möglichkeiten durchgespielt.
Der Tanz, die Musik erweisen sich als subtiles und ausgereiftes Vokabular
der Darstellung, das, jenseits der ohnehin nicht sehr strengen Verpflichtung
auf Realismus, den Film mit einer zusätzlichen Ebene des
Möglichkeitssinns ausstattet. Darüber hinaus bereiten diese Szenen,
in aller Regel die Höhepunkte jeden Bollywood-Films, in ihren ausgefeilten,
gelegentlich aber durchaus komischen Choreografien natürlich eine ungeheure
Lust des Zuschauens und Zuhörens.
In
der gelungensten der Einlagen unternimmt Lagaan die traumhafte Vermischung
der Sphären. Im Dreierreigen wechseln Bhuvan, Gauri und Elizabeth den
sozialen Ort, Gauri taucht im Palast der Briten auf, Elizabeth im indischen
Dorf, Bhuvan stets dazwischen, sinnverwirrend hin- und hergerissen zunächst
zwischen den Frauen. Der indische Tanz steht gegen den britischen, jedoch
lösen sich die klaren Unterschiede auf, im Trick sind alle drei wie
Geisterwesen mal gemeinsam im Bild, verschwinden, erscheinen wieder. In dieser
Szene wird der Liebeskonflikt ausbuchstabiert, aber nicht als Melodrama,
sondern als raffinierte Montage des Hin und Her, des Wechsels, der - hier,
noch nicht im eigentlichen Narrativ - auf der einen Seite arretiert
wird.
Ihre Vollendung erfährt diese Einlage in der Musik. Virtuos bedient
sich A.R. Rahman - der sein amerikanisches Pendant Hans Zimmer (beide komponieren
auf starkem perkussivem Fundament, beide arbeiten geschickt mit
Ethno-Einflüssen) bei weitem überragt - des westlichen wie des
indischen Musikvokabulars: das Musical steht gegen den indischen Gesangsstil,
perfekt spielt Rahman beides gegen- und ineinander. Geschickt arbeitet er
mit Leitmotiven, die den Film zusätzlich strukturieren, Politik in Liebe
hinübergleiten lassen und wieder zurück. Nicht zuletzt das
Cricket-Match in seinen Auf- und Abschwüngen lebt von Rahmans Musik.
Und dass es auch den komplett regelunkundigen Betrachter für die
unglaubliche Dauer einer guten Stunde zu fesseln versteht, und zwar nach
mehr als zwei einhalb Stunden Vorgeschichte, das beweist in nuce noch
einmal die Stärke dieses Films.
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