Zurück zum Nichts
Es erweckt den Eindruck einer filmischen Selbstfindung, wenn man sich das
Werk des kanadischen Filmregisseurs Vincenzo Natali betrachtet. Nach seinem
Überraschungserfolg "Cube" (1997),
der minimalistisch ein sozialpsychologisches Experiment in einer Laborsituation
abbildet, versucht der Folgefilm
"Cypher" (2002) daran anzuknüpfen,
indem er den Style aus Cube übernimmt, den Minimalismus jedoch gegen
eine pompöse Agentenstory austauscht. Das Publikum war enttäuscht
von "Cypher" - das Erzählen komplexer Plots zählt nicht zu den
Stärken Natalis. Also hat er sich nun auf Minimalismus rückbesonnen
und mit "Nothing" einen weiteren "Experimentalfilm" abgeliefert, der dieses
Mal jedoch das Genre der Komödie bedient.
Dave und Andrew sind unzertrennliche Freunde. Das Schicksal hat sie
zusammengeführt: Dave ist ein klassischer Verlierertyp, der weder im
Beruf noch im Leben Erfolg hat und stets zum Ziel des Spotts seiner Mitmenschen
wird. Andrew hat Angst vor allem - besonders vor Menschen und er traut sich
nicht aus dem Haus. Die symbiotische Freundschaft zwischen beiden droht zu
zerbrechen, als Dave zu seiner Freundin ziehen will. Doch seine Pläne
ändern sich schon bald, als er herausbekommt, dass seine Freundin ihn
einzig dazu missbraucht hat, an das Vermögen seiner Firma zu gelangen
- deshalb verliert Dave zusammen mit ihr auch noch seinen Job und zieht
zurück zu Andrew in das kleine Häuschen zwischen zwei Autobahnen.
Doch der Ärger für beide hat erst begonnen: Eines Morgens flattert
ein Räumungsbescheid ins Haus, das schon mittags abgerissen werden soll.
Zudem ist sowohl Dave (wegen der Veruntreuung seiner Freundin) als auch Andrew
die Polizei auf den Fersen: Letzterer hat angeblich ein kleines Mädchen
sexuell belästigt. Als die Katastrophe naht, wird plötzlich alles
ganz still. Ein Blick aus dem Fenster offenbart: Die ganze Welt ist verschwunden.
Rund um das Haus nur weißes Nichts. Die beiden Freunde erkunden die
Leere nach und nach und finden heraus, dass sie selbst die ganze Welt
"weggewünscht" haben. Doch damit beginnen ihre Probleme von neuem.
Die Komik, mit der Natali seine Protagonisten und ihr Leben vorstellt, ist
absolut erfrischend. In wilden Collagen und verbunden durch comicartige
Tricksequenzen werden wir Zeuge von Dave und Andrews Lebenswegen und wie
sie sich zwangsläufig kreuzen mussten. Nachdem die Welt nach etwa einem
Viertel des Film verschwunden ist, wird diese Hektik getauscht gegen mehr
ruhige und besinnliche Szenen. Man merkt schnell, dass Natali jetzt an dem
Punkt angelangt ist, wo er sein analytisches Skalpell ansetzen möchte.
Die Freundschaft der beiden Protagonisten wird durch die Extremsituation
und die Orientierungslosigkeit zunächst gefestigt. Als beide jedoch
herausfinden, dass das Wegwünschen von unliebsamen Dingen bei der
Lösung von Problemen hilft, beginnt ein Konflikt, in dem beide ihre
Biografie(n) schonungslos aufarbeiten. Nach einem Streit entscheiden sie
sich, besser voneinander zu leben: Andrew darf weiter im Haus bleiben,
während Dave sich eine Parzelle im Nichts absteckt. Als Andrew sich
jedoch seine Agoraphobie wegwünscht, muss Dave feststellen, dass er
für seinen Freund nun völlig unwichtig geworden ist - was den Streit
von neuem eskalieren lässt.
Es ist natürlich vor allem interessant zu sehen, wie Natali seine beiden
Figuren mit dem Nichts umgehen lässt. Dieses Nichts ist eine weiße,
sich in alle Richtungen vom Haus aus ausdehnende Unendlichkeit. Damit wird
das Haus der beiden Freunde zum absoluten Mittelpunkt ihrer Welt. Alles was
sich darin befindet, dient Natali dazu, Gegenstand psychologischer Experimente
zu werden. Angefangen von der gemeinsamen Schildkröte, an der sich immer
wieder die Frage der "Verantwortung" entzündet über das Kabelfernsehen
(das man im Nichts immer noch empfangen kann) bis hin zur Spielkonsole, auf
der die beiden ihre Konflikte zunächst symbolisch im Tekken-Spiel zu
lösen versuchen. Doch es ist genau dieser Gebrauch der Dinge, der zu
den Konflikten zwischen beiden führt, die eben intellektuell bewältigt
werden müssen.
Natali beweist in "Nothing", dass er über humoristisches Potenzial
verfügt, dass man ihm - angesichts seiner sehr ernsten vorausgegangenen
Filmstoffe - kaum zugetraut hätte. Damit entlädt er die
Experimentalsituation natürlich zusehends ihrer Brisanz. Mit "Cube"
verbindet "Nothing" einzig das Phänomen des Gedankenspiels. An
Einfällen mangelt es Natali jedoch nie. Im Gegensatz zu "Cypher" erkennt
man bald, dass Natali seine Ideen nicht aus komplexen Situationen und Plots
entwickelt, sondern aus der totalen Reduktion. Je weniger erzählerisches
Ambiente ihm zur Verfügung steht, desto mehr besinnt er sich auf seine
eigentlichen Qualitäten, nämlich die Beobachtung von sozialer
Interaktion.
"Nothing" wird sicherlich nicht derselbe Erfolg beschieden sein, wie seinerzeit
"Cube". Dem steht das Komische des Films dann doch wieder zu sehr im Weg.
Ein Ausweis für die Fähigkeiten des noch sehr jungen Kanadiers,
sich in jedem Genre zu Hause zu fühlen, wenn er sich von dessen
erzählerischem Ballast zu trennen in der Lage ist, ist "Nothing" auf
jeden Fall. Man darf sehr gespannt sein, aus wie wenig Natali in seinem
nächsten Versuch etwas zu machen in der Lage ist.
Nothing
Kanada 2003
Regie: Vincenzo Natali
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