Tag 3:
Hotel (Italien, UK 2001 / Regie Mike Figgis)
Kannibalistische Fremdenführer, Salatblätter kauende,
cholerische Dogmaregisseure, SM-Lesbensex und die Duchess of Malfi. Das Ganze
natürlich in Venedig und mit noch mehr Hollywoodstars, die gegen ihr
Image anspielen (Lucy Liu, Salma Hayek, John Malkovich und Burt Reynolds
u.a.); inszeniert mit höchster erzählerischer und technischer Brillanz;
sprich: TIMECODE war nur der Anfang
Figgis ist mal wieder ganz vorne mit dabei und zeigt einen Pioniergeist,
vor dem man nur in die Knie gehen kann.
Hundstage (Österreich 2001 / Regie: Ulrich Seidl)
Seidls Venediggewinner gehörte natürlich auch in Rotterdam
zu den ganz großen Highlights. In seinem Blick auf die unter einer
Hitzeglocke brütenden Vorstadtidylle erinnert HUNDSTAGE ein wenig an
die Arbeiten von Mike Mills oder Lynch, jedoch findet hier kein langsames
Abtauchen in die Hölle mehr statt. Seidels Blick mag nicht weniger
stilisiert sein als der von Lynch oder Mills (liebevoll arrangiert er seine
Bilder mit einer an Kubrick erinnernden Detailbesessenheit), die Hölle
ist aber in seiner Welt längst zum Normalzustand geworden, in welcher
die Figuren zwischen stumpfer Melancholie und heftigsten
Aggressionsausbrüchen hin und her pendeln. Seidel hat HUNDSTAGE über
drei Sommer hinweg, überwiegend mit Amateurdarstellern gedreht und das
Ganze hat alleine deshalb schon so lange gedauert, weil er drauf bestand
nur bei echten Außentemperaturen ab 37 Grad loszulegen. Derzeit arbeitet
er an einem Biopic über den 1818 in Wien gehenkten Mörder Johann-Gregor
Grasel (Arbeitstitel: DER GRASEL), ein im übrigen über das Festival
Rotterdam gefördertes Projekt.
A ma soeur / Fat Girl (Frankreich 2001 / Regie: Catherine
Breillat)
War HUNDSTAGE schon ein Film, der von seinen Darstellern so manches
abverlangte, so setzte
Catherine Breillat
(ROMANCE) mit ihrer bitteren Coming-of-Age-Story noch einen drauf. Titelgebendes
FAT GIRL ist die 12 jährige Anaïs (gespielt von der von Breillat
in einem McDonalds entdeckten Ana|s Reboux), die mit ihrer 15 jährigen
Schwester (angeblich gerade volljährig: Roxane Mesquida) und den Eltern
einen Sommer am Meer verbringt. Wie immer bei Breillat geht es natürlich
um das Ringen um und mit dem Sex. Die ältere Schwester verliert (im
übrigen vor den Augen von Anaïs) ihre Unschuld durch einen 25
jährigen Studenten, was der Film einerseits als beabsichtigten Missbrauch
durch den Mann, andererseits aber auch als bewusste Entscheidung des
Mädchens darstellt. Breillat versucht dabei wieder so weit wie möglich
zu gehen. Nicht nur schwenken (wie schon in ROMANCE) mal wieder erregierte
Penisse durchs Bild, aber sehr viel mehr noch geht es Breillat darum das
Innenleben ihrer Figuren und gerade das der Mädchen bloß zu legen.
Ihre Absicht mag von dem Willen und Mut zur Ehrlichkeit angetrieben sein,
erlöst einen aber nicht von dem Eindruck, das Ganze könne sich
für die Darsteller als im Vorfeld nicht zu überschauen gewesene
traumatische Erfahrung entwickelt haben. Ein Eindruck, den die Regisseurin
selbst, nach dem (im übrigen super harten) Ende ihres Films im
Gespräch mit dem Publikum eher noch bestätigte, als sie z.B. von
der zum Teil bewussten Manipulationen der Eltern berichtete, die den Dreharbeiten
natürlich erst zustimmen mussten.
Eintrag Catherine Breillat im
Auteur-Lexikon
Avalon (Japan 2001 / Regie: Mamoru Oshji)
Der in Rotterdam gezeigte erste Realfilm des mit dem Animeklassiker
GHOST IN THE SHELL auch im Westen zu einiger Berühmtheit gelangten Mamoru
Oshji, gehört zu der Art von ambitionierten kleinen SF-Filmen, wie man
sie leider viel zu selten sieht. Mit vergleichsweise beschränkten Mitteln
in Polen, mit polnischen Darstellern und auch in polnischer Sprache gedreht,
(was dem postapokalyptischen Look and Feel des Films sehr entgegen kommt),
erzählt der Film von Mara (Malgorzata Foremniak) die ihrem trostlosen
Leben in der virtuellen Welt eines Computerspiels zu entkommen versucht bis
dieses zunehmend von ihrer Wirklichkeit Besitz zu ergreifen scheint. Hierbei
verknüpft der Film auf intelligente Weise Elemente aus Cronenbergs EXISTENZ
mit Motiven der Arthus-Saga. Die Special Effects und Sets sind vom feinsten
und auf der Tonspur schmettern russische Chöre dass einem einfach nur
das Herz aufgehen kann.
Tag 4:
Kaïro / Pulse (Japan 2001 / Regie: Kiyoshi
Kurosawa)
Neben Cronenberg gibt es unter den dem Horrorfilmgenre zugerechneten
Regisseuren derzeit sicherlich keinen so spannenden wie intelligenten Filmemacher
wie den, hierzulande sträflicher Weise bislang nur auf einigen Festivals
zu sehen gewesenen Kiyoshi Kurosawa. Wie häufig bei ihm ist der
Ausgangspunkt der in PULSE erzählten Geschichte im Grunde ein recht
simpler. Ein junger Mann stößt im Internet auf eine Reihe seltsamer
Webcambilder, die verschiedene, apathisch dasitzende Menschen zeigen. Irgend
etwas scheint hier nicht zu stimmen und bald darauf fangen Computer auch
schon an sich von alleine einzuschalten und die Menschen auf den Bildschirmen
beginnen sich auf einen zuzubewegen.
Was zu einem mehr oder weniger simplen Horrorthriller in der Tradition
von THE RING hätte werden können, entwickelt sich unter den
Händen von Kurosawa zu einer Allegorie der Einsamkeit, die sich langsam
aber unaufhaltsam zu einem apokalyptischen Finale steigert, welches einem
wahrlich die Luft rauben kann.
Jump-Cut-Kritik zu Cure
Adress Unknown / Soochwieen boolmyung ( Südkorea 2001 / Regie:
Kim Ki-Duk)
Lässt man die ganzen Klischees des sogenannten World
Cinema (oder soll man sagen Dritte Welt Kinos) vor dem
inneren Auge Revue passieren, so ist man recht schnell bei der Geschichte
des armen, in einem Slum lebenden Arbeiterjungen, der sein Geld mit
Teppichknüpfen (wahlweise auch in der örtlichen Bleimiene) verdient,
in seiner spärlichen Freizeit jedoch Portraits von Vögeln zeichnet
(mit einem kantigen Stück Kohle natürlich und auf die weggeworfene
Rückseite eines Bananenkartons). Von der Ferne liebt er die Tochter
seines Nachbarn, mit der er schon in der Kindheit zusammen Frösche
aufgeblasen hat und die jetzt natürlich von ihrem sadistischen Bruder
auf den Strich geschickt wird. Sein einziger Freund ist der von allen anderen
Slumbewohnern wahlweise wegen seiner Herkunft oder einer Behinderung verachtete
Müllsammler, der mit seiner Mutter, einer spirituell veranlagten Frau,
am Rande des Slums in einer Blechhütte lebt.
Irgendwie erzählt auch Kim Ki-Duks Nachfolger zu
THE ISLE eine solche Geschichte, aber
er wäre nicht der Wahnsinnige der er ist, wenn beim ihm die nach
Betroffenheit schielenden Sozialpädagogen nicht bereits nach wenigen
Minuten mit der Hand vor dem Mund aus dem Kinosaal stürmen würden.
ADRESS UNKNOWN beginnt mit einer Szene in der einem etwa
fünfjährigen Mädchen von ihrem Bruder ins Auge geschossen
wird, darauf folgt eine Szene in der zwei Männer einen Hund schlachten,
indem sie ihn mit einer Schlinge um den Hals an einem Ast hochziehen um ihn
daraufhin mit einem Baseballschläger zu erschlagen und ab dann wird
im Grunde alles schlimmer.
Es fallen einem wenig Filme ein, die von einer vergleichbaren Wut
angetrieben werden, doch scheint diese bei diesem Thema auch nicht völlig
aus der Luft gegriffen.
Sicherlich der härteste Film dieses Festivals, der einen zudem
nachhaltig für das romantisch verklärtere Dritte Welt-Kino zu verderben
versteht.
Jump-Cut-Kritik zu The Isle (1999)
Jump-Cut-Kritik
zu Bad Guy (2001)
Sex and Lucia / Lucía y el sexo (Spanien 2001 / Regie: Julio
Medem)
Wieder einer den es hierzulande noch entsprechend zu entdecken gilt.
Gut, DIE LIEBENDEN DES POLARKREISES lief mit gerade mal 2-3 Kopien auch bei
uns im Kino und tauchte trotzdem zu Recht bereits in manchen Top 10 Listen
der besten Filme des vergangen Jahres im Feuilleton auf, aber wie konnte
man bitte schön TIERRA und LA ARDILLA ROJA übersehen? Wenigstens
in irgendeinem Dritten Programm nach 23 Uhr hätte es die doch zu sehen
geben müssen, schließlich gehört Julio Medem, neben Almodovar
längst zur international anerkannten Speerspitze des neuen spanischen
Kinos und seine Filme sind sogar noch in höchstem Maße unterhaltsam
und zugänglich.
Mit SEX & LUCIA dürfte Ihm allerdings nun endlich auch bei
uns ein breiter Arthouse-Erfolg ins Haus stehen. Wie bei den LIEBENDEN DES
POLARKREISES wird auch hier die Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe
erzählt, bei der allerlei schicksalhafte Verwicklungen dazwischenfunken.
Medem empfindet mal wieder eine besonders große Freude daran in seinem
Film Gott spielen zu können und seine Helden von einer schicksalhaften
Fügung in die nächste stolpern zu lassen (was ihm zu Recht manchen
Vergleich mit den Arbeiten von Tom Tykwer beschert hat), doch gleichzeitig
strahlen seine Filme (und SEX & LUCIA tut dies ganz besonders) auch wieder
eine derart pure und ungekünstelte Lebensfreude aus, dass man sich bei
dieser engen Verknüpfung von Konstruktion und Charme sehr viel stärker
noch an Caros AMELIE erinnert fühlt. Mit dessen braver Postkartenidylle
hat Medem allerdings eher wenig am Hut. Bei SEX & LUCIA dürfte es
ihm zudem als erstem Vertreter des europäischen Kinos gelungen sein,
an Deutlichkeit nichts im Dunkeln lassende Sexszenen gleichermaßen
unbefangen wie unaufgesetzt in eine geschlossene Handlung zu
integrieren.
Ichi the Killer / Koroshiya 1 (Japan 2001 / Regie: Takashi
Miike)
Von
vielen der mit der größten Vorfreude verbundene Film des Festivals.
Ich habe alleine vier Leute getroffen, die ihre Abreise um einen Tag verschoben
haben, nur um ICHI sehen zu können und auch beim zahlenden
holländischen Publikum scheint Miike spätestens seit
AUDITION hoch im Kurs zu stehen. Der
Film wurde in Rotterdam in einem rund 1000 Sitze starken Kinopalast vor
ausverkauftem Haus gespielt und als dann der Meister selbst (begleitet von
seinem Hauptdarsteller Tadanobu Asano) vor Filmbeginn auftrat rastete die
Menge vor Begeisterung derart aus, wie ich es seit dem Auftritt von Peter
Jackson beim Howl - Weekend of Fear vor 10 Jahren in Nürnberg
nicht mehr erlebt habe. Dieser hatte damals BRAINDEAD zum ersten Mal in
Deutschland vor einer, den Saal bis zum Anschlag füllenden Menge von
Nerds präsentiert, die ihn anschließend quasi auf ihren Händen
aus dem Kino trugen. Also, Vorfreude wohin man sah und ein sichtlich
gerührter Miike, der sich spontan entschloss bis zum Schluss im Kino
zu bleiben.
Wie bereits groß angekündigt (dem Presseheft war sogar
eine mit ICHI-Logo bedruckte Kotztüte beigelegt) geht Miike mal wieder
in die Vollen und versucht erneut die Grenzen seiner Zuschauer auszuloten.
In der ersten Szene schlägt ein Zuhälter sein Mädchen auf
das brutalste zusammen, während sich im Gewitterregen von draußen
eine dunkle Gestalt nähert. Der Fremde trägt einen an ein
Superheldenkostüm erinnernden schwarzen Plastikanzug mit einer leuchtenden
Eins auf dem Rücken, doch anstelle einzugreifen und den Retter zu spielen,
sehen wir wie er bei dem Anblick zu onanieren beginnt. Sein Samen, der zwischen
die Blumentöpfe auf den Boden spritzt bildet den Titelschriftzug: ICHI
THE KILLER.
Dieser Ichi ist ein kleiner unsicherer Otaku, der es nicht
überwinden kann, dass er damals erregt wurde als ihn ein paar
Klassenschläger zwangen bei der Vergewaltigung einer Mitschülerin
zuzusehen. Schon damals wollte er das Mädchen eigentlich retten, wurde
aber durch seine Erregung zurückgehalten. Seit dem kann man ihn in einen
regelrechten Blutrausch treiben, wenn man ihm einredet, es handele sich um
vergleichbare Täter wie damals. Eine kleine Organisation, welche das
Ziel verfolgt zwei Yakuza-Banden gegeneinander auszuspielen, bringt Ichi
dazu den Anführer einer der Banden zu töten. Dessen rechte Hand
ist der schmerzbesessene Yakuza-Killer Kakihara (von Tadanobu Asano in buntem
Pimp-Look, mit aufgeschnittenen Backen, die von ein paar Ringen nur
notdürftig zusammengehalten werden, kongenial verkörpert), der
nun die Aufgabe bekommt seinen Chef zu finden (Ichi hat ihn regelrecht
kleingehackt, so das die Leiche unauffindbar bleibt) und die vermeintlichen
Entführer zu stellen. Kakihara zeigt sich recht schnell vom Sadismus
Ichis in höchstem Maße fasziniert, findet er doch selbst niemanden
der bereit wäre seine masochistischen Grenzen auszuloten. Kann Ichi
derjenige sein, der Kakihara endlich sein, von ihm selbst so lange
herbeigesehntes grausames Ende beschert?
Miike inszeniert diese Geschichte über weite Strecken als geradezu
ausgelassen fröhliches Splattercomic, mit absurd übersteigerten
Gewaltexzessen im Stil von BRAINDEAD oder STORY OF RICKY, doch ist ihm die
Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung seiner Figuren durchaus ernst. Auf geradezu
geniale Weise gelingt es Miike in ICHI die Traurigkeit als festen Bestandteil
zunehmend stärker mit dem absurd Übersteigerten zu verknüpfen
und mal wieder zwischen sämtlichen Stühlen sitzend mit allen
Sehgewohnheiten und Genrekonventionen zu brechen.
Jump-Cut-Kritik zu Audition
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