Seit mehreren Jahren schon ist der Hong-Kong-Film nicht mehr,
was er einmal war, nämlich höchst eigenwilliges und formal innovatives
Actionkino, das aufregendste der Welt. Die alten Helden, von John Woo bis
Tsui Hark, sind nach Hollywood gegangen, haben in der Heimat Lücken
gerissen, ohne die Hoffnungen, die man in sie gesetzt hat, so recht zu
erfüllen. Hong Kong ist unterdessen im Mittelmaß versunken, mit
der einen oder anderen gelegentlichen und einer großen, erstaunlichen
Ausnahme: Johnnie To.
To ist ein Veteran, der seinen ersten Film schon 1979 drehte, und
in den glanzvollen Jahren Hong-Kongs fiel er nicht weiter auf. Umso
verblüffender die Entwicklung, die er seit 1994 nahm. Er gründete
die Produktionsgesellschaft Milkyway und dreht seither Jahr für Jahr,
meist mit seinem Mitstreiter Wai Ka-Fai, die schönsten Filme, die aus
Hong Kong kommen, die bisherigen Höhepunkte:
"The Mission" von 1999, die
atemberaubende Gangsterballade, mit der er auch im Westen berühmt wurde
und "Running Out of Time"
aus demselben Jahr, in dem, wie auch in "Fulltime Killer", Andy Lau, in seiner
Heimat ein Superstar, die Hauptrolle spielt
In den herausragenden Filmen Johnnie Tos findet sich stets beides.
Einerseits der oft sehr selbstreferenzielle Bezug auf die jüngste Geschichte
des Hong-Kong-Films, die Perfektionierung und Übersteigerung jener
Actionballett-Choreografien, die als reine und kinetische Form des Kinos
weltweit ihre Fans gefunden haben. Und andererseits wagt To die
ungewöhnlichsten Durchkreuzungen und Hybridisierungen der mittlerweile
zu Klischee und Konvention erstarrten Formen. In "The Mission" etwa inszenierte
er einen beinahe statischen Shootout, ein Action-Ballett des fast totalen
Stillstands.
Auch das jüngste Werk, "Fulltime Killer", ist ein Ausbruch aus
dem Genre, das als vielfach ausgebeulte Struktur dennoch zugrunde liegt.
Es handelt sich um die, vor allem von John Woo, immer wieder erzählte
Geschichte zweier Männer, die Freunde sein könnten und dennoch
darauf aus sein müssen, sich zu töten. Hier: der Japaner O, der
angesehenste und bestbezahlte Killer im gesamten asiatischen Raum, durch
den der Film denn auch, als wäre es ein Bond, in großem Tempo
springt, von Singapur nach Macau, von Tokio nach Hong Kong. Die
Sprachenverwirrung ist entsprechend babylonisch, es dürfte sich um den
ersten Hong-Kong-Film handeln, in dem mehr japanisch als kantonesisch, daneben
aber auch jede Menge englisch, gesprochen wird.
Die gewohnten Action-Choreografien gibt es in "Fulltime Killer" in
vergleichsweise geringem Maß. Wenn jedoch Tok, der übermütige
Herausforderer, tötet, dann macht Johnnie To daraus - und gewiss nicht
ohne Ironie - die ganz große Oper, im wörtlichen Sinne. Er unterlegt
die triumphalen Massaker mit Ausschnitten aus europäischen Opern, das
steigert sich bis zu "Freude schöner Götterfunken" beim letzten
dieser Auftritte, der, das versteht sich von selbst, zum Duell der beiden
Kontrahenten wird. Zwischen diesen großen Szenen aber gibt es ganz
ungewöhnlich viel Charakterentwicklung, dazu eine Liebesgeschichte,
bei der eine Frau zwischen den beiden Männern steht. Es gibt das
interessante Spiel mit Maskierungen und die notwendige Ergänzung des
Duells zum Dreikampf mit dem Polizisten, der jedoch über weite Strecken
im Hintergrund bleibt.
Das Erstaunlichste an "Fulltime Killer", der nach einem Bestseller
des Autors Edward Pang entstand, ist jedoch sein Ende, das in einer nicht
aufgelösten Doppelung offen bleibt. Der Polizist, der nach der wundersam
gelungenen Flucht der beiden Killer frustriert seinen Job aufgegeben hat,
schreibt nun ihre Geschichte. Was ihm fehlt, ist ein richtiges Ende. Da taucht
Chin, die Frau zwischen Tok und O, bei ihm auf, erzählt ihm, was sich
nach der Flucht zugetragen hat. Den Ausgang des Duells aber sehen wir doppelt:
einmal siegt Tok, einmal O. Was wirklich geschehen ist, erfahren wir nicht,
der Film verweigert ironisch den konventionellen, eindeutigen Abschluss.
Das ist ein Flirt des Hong-Kong-Action-Kinos mit dem Kunstfilm, wie man ihn
so noch nicht gesehen hat. Die Puristen wird das vielleicht nicht freuen,
für alle anderen erweist sich Johnnie To mit "Fulltime Killer" ein weiteres
Mal als der im Moment aufregendste Regisseur Hong Kongs.
zur Jump Cut Startseite
|