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Anurag Basu: Murder (Indien 2003) & Amit Saxena: Jism (2004)

Von Ekkehard Knörer 

Das Bollywood-Kino befindet sich im Moment in einer der spannendsten Phasen seiner Geschichte. Was die Einspielergebnisse angeht, fällt es von einer Krise in die nächste, so haben im Jahr 2003 sagenhafte 95 Prozent aller in die Kinos gekommenen Filme Verluste gemacht. Die im Weltvergleich gesehen noch sehr junge Konkurrenz des Fernsehens trägt zu den Einbrüchen ebenso bei wie die anscheinend nicht unter Kontrolle zu bekommende DVD-Piraterie, die dafür sorgt, dass die neueste Filme meist schon ein paar Tage nach Kinostart an der nächsten Straßenecke (und nicht selten auch bei ebay) zu haben sind. Es kommt ein Umbruch auf dem Kinomarkt dazu. In den größeren Städten breiten sich seit ein paar Jahren die Multiplex-Kinos aus, die – anders als bei uns – nicht kleinere Kinos, sondern die traditionell riesigen indischen Filmpaläste zu verdrängen drohen. Weil die zahlungskräftige Mittelschicht in die besser ausgestatteten Multiplexe abwandert, gerät der ganze Markt aus der Balance – und das hat wiederum Rückwirkungen auf die Filme. So ist auf längere Sicht genau jenes "Genre" vom Aussterben bedroht, das als Herzstück von Bollywood anzusehen ist: Der Masala-Film für die ganze Familie und fürs ganze Volk, der mit Herz, Schmerz, Tanz, Gesang und Schauwerten, mit seinen Wechselbädern aus infantilem Humor und herzzerreißendem Unglück allen etwas zu bieten hatte.

Andererseits zeitigt die derzeitige Umbruchsphase gerade aufgrund der tief greifenden Unsicherheit die erstaunlichsten Experimente. Die seit den 70ern weit auseinanderklaffende Schere zwischen dem Sozialrealismus des sogenannten Parallel Cinema und dem zunehmend eskapistischen und in den 80er und 90er Jahren zunehmend formelhaften Entertainment scheint sich wieder zu schließen. So dreht Shyam Benegal, eine der Ikonen des bengalischen Arthouse-Kinos, plötzlich von Bollywood inspirierte Filme wie "Zubeeida" – und so ist es möglich, dass Ashutosh Gowariker nach seinem Riesenerfolg "Lagaan" mit seinem jüngsten Film "Swades" ein vergleichsweise realistisches Drama um die Rückständigkeit der indischen Dörfer drehen kann – mit Superstar Shah Rukh Khan in der Hauptrolle. Als typische Multiplex-Erfolge mit begrenztem Publikum und einigem Anspruch haben zuletzt die Macbeth-Variation "Maqbool" und jüngst das Aids-Drama "My Brother Nikhil" mit seiner erstaunlich selbstverständlichen Darstellung einer schwulen Liebesbeziehung auf sich aufmerksam gemacht. Der Produzent und Regisseur Ram Gopal Varma versucht sich am Mafia- und Gangstergenre (etwa mit "Company") und Mani Ratnam dreht mal in seiner tamilischen Heimat, dann wieder für Bollywood Filme, die politischen Sprengstoff und die spekulative wie spektakuläre Form des kommerziellen Kinos zu verbinden suchen (zuletzt den etwas enttäuschenden "Yuva").

Selbst unter dem Aspekt der mitunter verzweifelten Suche nach neuen Erfolgsrezepten muss es freilich verblüffen, dass sich Bollywood nun auch an einem Genre versucht, das ein paar grundsätzlichen Parametern seiner bisherigen Geschichte zuwiderläuft: nämlich am schwülen Erotikthriller. Man muss nur daran erinnern, dass das Kussverbot eine der zwar immerzu umspielten, selten aber gebrochenen Regeln des indischen Kommerzfilms ist, vom Verschwinden Madhubalas hinter einer großen Feder im Klassiker "Mughal-e-Azam" bis zu den erfolgreichsten Romanzen der Gegenwart, etwa Yash Chopras "Veer-Zaara". Nicht dass es Bollywood mit seinen Miss-World-Schönheiten in nassen Saris jemals an Erotik gefehlt hätte. Die expliziteren Formen jedoch, die der Erotikthriller fordert, hätte man bis vor kurzem für undenkbar gehalten, jedenfalls im Mainstream der Produktionen. Mit einem Schlag aber hat sich das in den letzten Jahren geändert. Die Stripperinnen-Klamotte "Boom" mit Amitabh Bachchan konnte man noch als geschmacklosen (noch dazu erfolglosen) Ausrutscher abtun. Nach den zwei aufsehenerregenden und ihre HauptdarstellerInnen Mallika Sherawat, Bipasha Basu und John Abraham an die vorderste Front der Klatschpresse katapultierenden Filmen "Jism" und "Murder" ist das Phänomen nun aber nicht mehr zu ignorieren. Kein Zufall ist es im übrigen, dass hinter beiden Mahesh Bhatt steckt, der für "Raaz" (2002) auch schon ein kompetentes Drehbuch für einen Bollywood-Horrorfilm vorgelegt hat und überhaupt als Autor und Regisseur ein Meister technisch gelungener und Mainstream-kompatibler Exploitation-Genre-Verwertung ohne weiteren Kunstanspruch ist.

Für "Murder" hat man die Handlung vorsichtshalber nach Bangkok verlegt: In Thailand scheint so manches möglich. Die Zumutungen des Films fürs traditionelle indische Wertesystem, das eheliche Untreue bei Mann und Frau mit sehr unterschiedlichem Maß misst, sind jedenfalls beträchtlich. Erzählt wird die Geschichte einer Wiederverheiratung unter widrigen Umständen. Ein indisches Ehepaar in Bangkok entfremdet sich zusehends. Er hat wenig Zeit für seine Ehefrau und trauert ohnehin der bei einem Unfall ums Leben gekommenen ersten Frau nach, die er durch deren jüngere Schwester ersetzt hat. Ihr läuft die Liebe aus einem früheren Leben über den Weg, der Mann, der, weil er sie gegen einen anderen allzu brutal verteidigt hatte, ins Gefängnis musste. Rasch kommt es, allen Skrupeln zum Trotz, zum Ehebruch und bald obsiegen, der Lust zum Trotz, doch die Skrupel. Der Liebhaber aber lässt keine Ruhe, ein Mord geschieht und der Film präsentiert in Rückblenden zwei Versionen der Kriminalgeschichte, die beide nicht stimmen. Die Sex-Szenen sind explizit, aber natürlich nur bis zur Entblößung des weiblichen Bauches und des männlichen Oberkörpers. Begleitet werden sie von kräftigen Thriller-Schocks, die unverkennbar den Anschluss an Hollywood suchen. Kameramann Fuwad Khan findet slicke Bilder fürs mal erotische, mal mörderische Geschehen. Eine gewisse Schwerfälligkeit wird der Film dennoch nicht los, allzu stark bleibt der verbissene Wille zur Genrehaftigkeit spürbar, der den reichlich trashigen Plot ernst nimmt, statt ihn als Spielmaterial zu benutzen. Höchst ungewöhnlich ist es allerdings, dass der Film die Ehebrecherin keineswegs moralisch verurteilt, im Gegenteil. Ähnlich wie in den "Comedies of Remarriage" des klassischen Hollywood geht es hier auf Exploitation-Niveau um einen Kampf um Anerkennung zwischen Eheleuten.

Im Vergleich mit "Murder" kommt Amit Saxenas Regiedebüt "Jism" um einiges leichtfüßiger daher. Sommer, Sonne, Meer, Gesang und bauchfreie Sex-Szenen à la 9 ½ Wochen (Eiswürfel!) fügen sich im ersten Teil fast mühelos, wenn auch in sehr gemächlichem Tempo ineinander. Die Weichzeichner-Erotik, für die wiederum der Kameramann Fuwad Khan verantwortlich zeichnet, mag nicht jedermanns Sache sein; als erster Versuch des indischen Mainstream-Kinos in erotischer Freizügigkeit ist sie immerhin nicht übermäßig peinlich. Mindestens eine großartige Szene, die haarscharf die Kurve vom unfreiwillig Komischen ins Grandiose kriegt, hat dieser erste Teil zu bieten, nämlich den Sturm und Drang des begehrenden Liebhabers aufs Haus der Geliebten, der die Türen und Wände zum Rütteln bringt, als hätte sich die Lust auf das Gebäude selbst übertragen. Über das Weitere des Plots ist fast schon zu viel gesagt, wenn man verrät, dass sich Drehbuchautor Mahesh Bhatt in atemberaubender Nähe zu James M. Cains klassischem Noir-Roman "Double Indemnity" bewegt, den einst schon Billy Wilder verfilmte. Die zunehmende Verdüsterung der Verhältnisse bekommt Regisseur Saxena überzeugend hin, leider mangelt es der Hauptdarstellerin Bipashu Basu ein wenig an Verführungskraft und Ausstrahlung. Sensationell für indische Verhältnisse ist aber in jedem Fall die Leidenschaft, mit der die Liebenden hier küssend übereinander herfallen. Wer das gesehen hat, dem kann für die Zukunft des indischen Erotikthrillers nicht bang sein. Mag sein, dass die Welt dergleichen fürs erste nicht unbedingt braucht. Für die rasant voran schreitende Diversifizierung Bollywoods sind die Genre-Werke "Murder" und "Jism" jedoch nicht zu unterschätzen. Wenig erscheint da beim jetzigen Stand der Dinge unmöglich.

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