Das Bollywood-Kino befindet sich im Moment in einer der
spannendsten Phasen seiner Geschichte. Was die Einspielergebnisse angeht,
fällt es von einer Krise in die nächste, so haben im Jahr 2003
sagenhafte 95 Prozent aller in die Kinos gekommenen Filme Verluste gemacht.
Die im Weltvergleich gesehen noch sehr junge Konkurrenz des Fernsehens
trägt zu den Einbrüchen ebenso bei wie die anscheinend nicht unter
Kontrolle zu bekommende DVD-Piraterie, die dafür sorgt, dass die neueste
Filme meist schon ein paar Tage nach Kinostart an der nächsten
Straßenecke (und nicht selten auch bei ebay) zu haben sind. Es kommt
ein Umbruch auf dem Kinomarkt dazu. In den größeren Städten
breiten sich seit ein paar Jahren die Multiplex-Kinos aus, die anders
als bei uns nicht kleinere Kinos, sondern die traditionell riesigen
indischen Filmpaläste zu verdrängen drohen. Weil die
zahlungskräftige Mittelschicht in die besser ausgestatteten Multiplexe
abwandert, gerät der ganze Markt aus der Balance und das hat
wiederum Rückwirkungen auf die Filme. So ist auf längere Sicht
genau jenes "Genre" vom Aussterben bedroht, das als Herzstück von Bollywood
anzusehen ist: Der Masala-Film für die ganze Familie und fürs ganze
Volk, der mit Herz, Schmerz, Tanz, Gesang und Schauwerten, mit seinen
Wechselbädern aus infantilem Humor und herzzerreißendem Unglück
allen etwas zu bieten hatte.
Andererseits zeitigt die derzeitige Umbruchsphase gerade aufgrund der tief
greifenden Unsicherheit die erstaunlichsten Experimente. Die seit den 70ern
weit auseinanderklaffende Schere zwischen dem Sozialrealismus des sogenannten
Parallel Cinema und dem zunehmend eskapistischen und in den 80er und 90er
Jahren zunehmend formelhaften Entertainment scheint sich wieder zu
schließen. So dreht Shyam Benegal, eine der Ikonen des bengalischen
Arthouse-Kinos, plötzlich von Bollywood inspirierte Filme wie
"Zubeeida" und so ist es
möglich, dass Ashutosh Gowariker nach seinem Riesenerfolg
"Lagaan" mit seinem jüngsten Film
"Swades" ein vergleichsweise realistisches Drama um die
Rückständigkeit der indischen Dörfer drehen kann mit
Superstar Shah Rukh Khan in der Hauptrolle. Als typische Multiplex-Erfolge
mit begrenztem Publikum und einigem Anspruch haben zuletzt die Macbeth-Variation
"Maqbool" und jüngst das Aids-Drama "My Brother Nikhil" mit seiner
erstaunlich selbstverständlichen Darstellung einer schwulen Liebesbeziehung
auf sich aufmerksam gemacht. Der Produzent und Regisseur Ram Gopal Varma
versucht sich am Mafia- und Gangstergenre (etwa mit
"Company") und Mani Ratnam dreht mal
in seiner tamilischen Heimat, dann wieder für Bollywood Filme, die
politischen Sprengstoff und die spekulative wie spektakuläre Form des
kommerziellen Kinos zu verbinden suchen (zuletzt den etwas enttäuschenden
"Yuva").
Selbst unter dem Aspekt der mitunter verzweifelten Suche nach neuen
Erfolgsrezepten muss es freilich verblüffen, dass sich Bollywood nun
auch an einem Genre versucht, das ein paar grundsätzlichen Parametern
seiner bisherigen Geschichte zuwiderläuft: nämlich am schwülen
Erotikthriller. Man muss nur daran erinnern, dass das Kussverbot eine der
zwar immerzu umspielten, selten aber gebrochenen Regeln des indischen
Kommerzfilms ist, vom Verschwinden Madhubalas hinter einer großen Feder
im Klassiker "Mughal-e-Azam" bis
zu den erfolgreichsten Romanzen der Gegenwart, etwa Yash Chopras
"Veer-Zaara". Nicht dass es Bollywood
mit seinen Miss-World-Schönheiten in nassen Saris jemals an Erotik gefehlt
hätte. Die expliziteren Formen jedoch, die der Erotikthriller fordert,
hätte man bis vor kurzem für undenkbar gehalten, jedenfalls im
Mainstream der Produktionen. Mit einem Schlag aber hat sich das in den letzten
Jahren geändert. Die Stripperinnen-Klamotte "Boom" mit Amitabh Bachchan
konnte man noch als geschmacklosen (noch dazu erfolglosen) Ausrutscher abtun.
Nach den zwei aufsehenerregenden und ihre HauptdarstellerInnen Mallika Sherawat,
Bipasha Basu und John Abraham an die vorderste Front der Klatschpresse
katapultierenden Filmen "Jism" und "Murder" ist das Phänomen nun aber
nicht mehr zu ignorieren. Kein Zufall ist es im übrigen, dass hinter
beiden Mahesh Bhatt steckt, der für "Raaz" (2002) auch schon ein kompetentes
Drehbuch für einen Bollywood-Horrorfilm vorgelegt hat und überhaupt
als Autor und Regisseur ein Meister technisch gelungener und
Mainstream-kompatibler Exploitation-Genre-Verwertung ohne weiteren Kunstanspruch
ist.
Für "Murder" hat man die Handlung vorsichtshalber nach Bangkok verlegt:
In Thailand scheint so manches möglich. Die Zumutungen des Films fürs
traditionelle indische Wertesystem, das eheliche Untreue bei Mann und Frau
mit sehr unterschiedlichem Maß misst, sind jedenfalls beträchtlich.
Erzählt wird die Geschichte einer Wiederverheiratung unter widrigen
Umständen. Ein indisches Ehepaar in Bangkok entfremdet sich zusehends.
Er hat wenig Zeit für seine Ehefrau und trauert ohnehin der bei einem
Unfall ums Leben gekommenen ersten Frau nach, die er durch deren jüngere
Schwester ersetzt hat. Ihr läuft die Liebe aus einem früheren Leben
über den Weg, der Mann, der, weil er sie gegen einen anderen allzu brutal
verteidigt hatte, ins Gefängnis musste. Rasch kommt es, allen Skrupeln
zum Trotz, zum Ehebruch und bald obsiegen, der Lust zum Trotz, doch die Skrupel.
Der Liebhaber aber lässt keine Ruhe, ein Mord geschieht und der Film
präsentiert in Rückblenden zwei Versionen der Kriminalgeschichte,
die beide nicht stimmen. Die Sex-Szenen sind explizit, aber natürlich
nur bis zur Entblößung des weiblichen Bauches und des männlichen
Oberkörpers. Begleitet werden sie von kräftigen Thriller-Schocks,
die unverkennbar den Anschluss an Hollywood suchen. Kameramann Fuwad Khan
findet slicke Bilder fürs mal erotische, mal mörderische Geschehen.
Eine gewisse Schwerfälligkeit wird der Film dennoch nicht los, allzu
stark bleibt der verbissene Wille zur Genrehaftigkeit spürbar, der den
reichlich trashigen Plot ernst nimmt, statt ihn als Spielmaterial zu benutzen.
Höchst ungewöhnlich ist es allerdings, dass der Film die Ehebrecherin
keineswegs moralisch verurteilt, im Gegenteil. Ähnlich wie in den "Comedies
of Remarriage" des klassischen Hollywood geht es hier auf Exploitation-Niveau
um einen Kampf um Anerkennung zwischen Eheleuten.
Im Vergleich mit "Murder" kommt Amit Saxenas Regiedebüt "Jism" um einiges
leichtfüßiger daher. Sommer, Sonne, Meer, Gesang und bauchfreie
Sex-Szenen à la 9 ½ Wochen (Eiswürfel!) fügen sich
im ersten Teil fast mühelos, wenn auch in sehr gemächlichem Tempo
ineinander. Die Weichzeichner-Erotik, für die wiederum der Kameramann
Fuwad Khan verantwortlich zeichnet, mag nicht jedermanns Sache sein; als
erster Versuch des indischen Mainstream-Kinos in erotischer Freizügigkeit
ist sie immerhin nicht übermäßig peinlich. Mindestens eine
großartige Szene, die haarscharf die Kurve vom unfreiwillig Komischen
ins Grandiose kriegt, hat dieser erste Teil zu bieten, nämlich den Sturm
und Drang des begehrenden Liebhabers aufs Haus der Geliebten, der die Türen
und Wände zum Rütteln bringt, als hätte sich die Lust auf
das Gebäude selbst übertragen. Über das Weitere des Plots
ist fast schon zu viel gesagt, wenn man verrät, dass sich Drehbuchautor
Mahesh Bhatt in atemberaubender Nähe zu James M. Cains klassischem
Noir-Roman "Double Indemnity" bewegt, den einst schon Billy Wilder verfilmte.
Die zunehmende Verdüsterung der Verhältnisse bekommt Regisseur
Saxena überzeugend hin, leider mangelt es der Hauptdarstellerin Bipashu
Basu ein wenig an Verführungskraft und Ausstrahlung. Sensationell für
indische Verhältnisse ist aber in jedem Fall die Leidenschaft, mit der
die Liebenden hier küssend übereinander herfallen. Wer das gesehen
hat, dem kann für die Zukunft des indischen Erotikthrillers nicht bang
sein. Mag sein, dass die Welt dergleichen fürs erste nicht unbedingt
braucht. Für die rasant voran schreitende Diversifizierung Bollywoods
sind die Genre-Werke "Murder" und "Jism" jedoch nicht zu unterschätzen.
Wenig erscheint da beim jetzigen Stand der Dinge unmöglich.
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