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Backlist: Carol Reed: Der dritte Mann (1949) |
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BacklistCarol Reed: Der dritte Mann (1949) ________________________________________________________________ |
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Ein kleiner Junge, der zuvor schon nachdrücklich - da narrativ unerklärlich - eingeführt wurde, denunziert Holly Martins als Mörder und ein offensichtlich zum Lynchen entschlossener Mob nimmt die Verfolgung durch die kriegsverwüsteten Straßen Wiens auf. Für diesen Moment glaubt man sich in einem Fritz-Lang-Film, um dann unversehens im Verlauf einer vermeintlichen Entführung per Auto auf einer Schriftstellerlesung zu landen - ganz als wäre es ein Stück von Hitchcock. Die immer wieder zum Ausbruch kommende Frivolität von Der Dritte Mann, das Thema des unschuldig Verfolgten, die Lust am Unerklärten (so gibt es einmal ein aufwendig in raschen Schnitten inszeniertes konspiratives Treffen der Schurken des Films, dessen Sinn und Zweck einem verborgen bleibt; ebenso unklar ist, warum Harry Lime seinen früheren Freund Holly Martins überhaupt nach Wien gerufen hat), all das verweist auf den naheliegenden Einfluss des britischen Meisters des Suspense. Dennoch ist Der Dritte Mann mit sehr eigenständigen Ideen ein Film von ganz unepigonaler Meisterschaft. Von Beginn an legt Reed die Kamera leicht schief und stellt damit auf der formalen Ebene klar, dass etwas faul ist in der Viermächtestadt Wien (eine Ausnahme sind die ersten beiden Dialogszenen zwischen Holly Martins und Anna). Geschickt wird Harry Lime als abwesendes und mysteriöses Zentrum der Geschichte aufgebaut: erst wird dem Betrachter der Blick auf ein Foto verwehrt, dann, in metonymischer Übersteigerung, sogar noch auf die Leiche, die an Limes statt in dessen Grab liegt. Umso grandioser dann der erste Auftritt, ein Lichtwurf per Scheinwerfer, ein aus-dem-Schatten-Treten, dem bei der Flucht sogleich die erneute Schattenwerdung Limes folgt. Überhaupt hat Lime im Film fast ausschließlich entweder Auftritte (später im Café etwa) oder er rennt und flieht, wie im sehr zu Recht berühmten Showdown in den Wiener Abwasserkanälen. Er ist nie zu fassen und noch im einzigen Moment ruhiger Unterredung ist er in Bewegung: im sich drehenden Riesenrad. In seinem immer wieder durchscheinenden - und erfreulichen - Unernst bewegt sich der Film eher an den Rändern des film noir. Insbesondere die weibliche Hauptfigur fügt sich nicht ins eigentlich erforderliche femme-fatale-Muster. Ihre Motivationen bleiben unklar, sie bringt keinen der Männer zu Fall und weder schlägt sie sich ganz auf die Seite Harry Limes noch will die Zurückweisung von Holly Martins weiter dramatisch erscheinen. Strukturell ist die Figur bei genauer Betrachtung nicht notwendig, ist der Kreuzungspunkt reichlich unklarer Motivationen, Handlungsverzögerungen, mehr nicht. Das eigentliche Drama spielt sich zwischen dem Colonel, Holly Martins und Harry Lime ab - und mitunter kommt es einem so vor, als sei der film noir das passende, aber keiner inneren Notwendigkeit wegen gewählte Genre, als liege das eigentliche Interesse jedoch in einzelnen Szenen - die dann, vom ersten Chiaroscuro-Auftritt von Orson Welles bis zur Jagd durch die unterirdischen Kanäle, so unvergesslich geblieben sind. Und daran ist nichts verwerflich, Der Dritte Mann ist ein herrlich unangestrengter, amüsanter und raffinierter Film, voller Einfälle und zugleich auf allen gewählten Abwegen spannend.
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