BERLIN/HEBBEL-THEATER
Societas Raffaello Sanzio: Tragedia
Endogonidia. Arterie del sistema
von Ekkehard Knörer
Theater für Hasen: im Parkett lümmeln sie, aus Stoff,
die schlaffen Glieder in den Sitzen. Der Mensch als Zuschauer in den Rängen
sieht den Hasen zu, die dem Treiben auf der Bühne zusehen, kann jedenfalls
die Hasen nicht rausstreichen aus seiner sinnsüchtigen Wahrnehmung,
die Hasen, die immer nur zu sagen scheinen: ick bün all hier und damit
meinen sie: nix für dich, Theater für Hasen.
BERLIN/VOLKSBÜHNE
Christoph Marthaler: Murx
von Ekkehard Knörer
Das macht, von der ersten Sekunde an, den Eindruck, als ginge
es schon ewig so. Und müsse immer so weiter gehen. 1993 hatte Murx Premiere,
an der Volksbühne, Christoph Marthaler war weithin unbekannt. Bis heute
spielen sie das Stück, das längst zum Klassentreffen geworden ist
für die Beteiligten (einer ist auch schon tot aus dem Original-Ensemble),
von denen kaum mehr einer an der Volksbühne arbeitet.
BERLIN/SCHAUBÜHNE
Peter Brook: Hamlet
von Ekkehard Knörer
Teil der Askese-Ideologie des ganzen ist ja auch: so tun, als
ob das, was man spielt, zum ersten Mal gespielt würde, gerade jetzt
und hier quasi erfunden. Wenn ein Stück dafür nicht taugt, dann
Hamlet. Wenn irgend ein Text zu Tode gesprochen und zu Tode gehört ist,
dann Hamlet. Wenn etwas nicht mehr naiv und von aller Interpretation und
Reflexion unberührt aufzuführen ist, dann Hamlet.
BERLIN/SOPHIENSÄLE
Nico and the Navigators: Lilli in
Puttgarden
von Ekkehard Knörer
Was Nico and the Navigators auf der Grundlage dieses Prinzips
aber auf die Bühne zaubern, ist in erster Linie eines: herrliche, ins
Groteske vernarrte, umwerfende Comedy. Sei es die laute und wortreiche Anpreisung
eines Kleiderbügels, sei es das Minidramolett um ein gestohlenes Fahrrad
mit Luftkissenschlacht oder eine Teebeutelverkaufsvorführung, die in
Chaos und Zerstörung endet: stets ist das Timing perfekt, sind die
absurd-komischen Akzente präzis gesetzt, treffen Regie und Darsteller
punktgenau die Linie zwischen Wiedererkennbarkeit und Überzeichnung,
die es zu treffen gilt, will man weder in bloße Satire noch in bloßen
Nonsens abdriften.
weiter
BERLIN/SCHAUBÜHNE
Luc Perceval: Aars!
von Ekkehard Knörer
Ein kreisrundes, knöcheltief mit Wasser gefülltes
Planschbecken, darin ein Tisch, vier Stühle, vier Menschen. Das ist
alles, was von der großen und weit verzweigten Familie der Atriden
übrig geblieben ist bei Luk Perceval. Dazu gibt es technoide Musik vom
Live-DJ (vermutlich an Chores Stelle), Lichtgeflacker, Ringelpiez mit Anfassen
und jede Menge Texte, die nach unverdauter oder auch verdauter Psychoanalyse
klingen, egal, Fressen, Hunger, Sex, Inzest, das wird alles hineingerührt
und choreografisch aufgeführt - und irgendwo, behauptet das Programmheft,
soll da noch ein Zusammenhang zur Orestie vorhanden sein. |
BERLIN/VOLKSBÜHNE
Christoph Marthaler: Lieber nicht
von Ekkehard Knörer
Wunderbar, ganz wunderbar. Marthaler nimmt Bartleby die Worte
aus dem Mund, sagt "Lieber Nicht" und der Rest ist Schweigen. Nicht ganz,
natürlich. Gesungen wird, wie stets, nur hier: recht wenig.
BERLIN/VOLKSBÜHNE
Christoph Marthaler: Die zehn Gebote
von Ekkehard Knörer
Das Wunder ist, wenn ein Theaterabend ohne jede Nötigung
durch eine Fabel zusammen hält. Dieses Wunder geschieht, trotz
gelegentlicher Längen, in Christoph Marthalers sehr freihändiger
Inszenierung von Vivianis "Die Zehn Gebote", irgendwo zwischen Klavier- und
Orgelklang, Kitschgesang und dem roten Faden des enger oder weiter Katholischen
meist folgenden Grotesk-Dialogen. Und irgendwann, leider ein gutes Stück
vor dem Ende, hat es sich dann mit dem Wunder, es gewinnt die reale Zeit
ihre bleischwere Oberhand über die leichtfüßige Theaterzeit.
BERLIN/PODEWIL/TANZ IM AUGUST
Xavier Le Roy/Eszter Salomon: Giszelle
von Ekkehard Knörer
Eszter Salomons von ihr und Xavier Le Roy choreografiertes Solo
hat zwei Teile, durch die Pause und auch den Stil klar voneinander getrennt.
Der erste Teil, ironisch Giszelle genannt, ist ein fortlaufendes Stück,
dessen Gesamtthema man am besten als Ausstellung von Übergängigkeit
beschreiben könnte.
NEW YORK
Richard Foreman: Now That Communism is Dead My
Life Feels Empty
von Ekkehard Knörer
Wo der Sinn so offenkundig nicht vordringlich ist, hält
man sich am besten an die Form. Mit dem üblichen Illusionstheater hat
man es hier, soviel versteht sich von selbst, nicht zu tun, dessen Elemente
sind dissoziiert: es gibt Schauspieler, aber sie sprechen ihre Texte auf
immer dieselbe Weise, egal, was sie nun sagen, egal, wie sehr ihre Worte
von Leid sprechen und Leere. Immerhin fallen sie gelegentlich wie tot zu
Boden, stehen aber wieder auf, tanzen (ungelenk). Bewegung ist ein wichtiges
Element dieses Theaters, Choreografien, sich ständige ändernde
Konstellationen zwischen den Hauptfiguren, den verschleierten Wesen und auch
den Requisiten. Dazu kommt die Musik, vom Band eingespielt und angespielt,
repetitiv, selbst ein Akteur, der Handlungen auslöst oder begleitet,
dann immer wieder abrupt abbricht.
BERLIN/PRATER
René Pollesch: Eine Frau unter
Einfluss
von Ekkehard Knörer
Wie es los ging, geht es dann einfach weiter. Auftritt drei Frauen,
ins im Staub sitzende Publikum geballerter Text, Umzieh- und Musikpausen,
Schüsse auf den Notebookkarton. Rote Vorhänge in den Blockhausfenstern,
die nichts nutzen, es gibt ja die Live-Übertragung (sehr komisch gleich
am Anfang auch die hysterische Kinderverfolgungsjagd mit gezückter Pistole).
Weil es nicht anders geht, wird auch irgendwann Gena Rowlands mit ihren
Spaghettis herbeizitiert, außerdem, von ganz woandersher, ein alter
Defa-Film, in dem Annekathrin Bürger die Hauptrolle spielt, als Hostess.
Eine sehr volksbühneske Einlage gegen Ende mit Kokainkonsum und einem
flotten Dreierfick, der Sinn des Ganzen hat sich bis dahin aber schon arg
verflüchtigt. Das Stück ist kurz genug, dass man den Spaß
nicht verliert. Dass er bei den meisten Pointen schnell verpufft, lässt
sich aber auch nicht leugnen. |