Café Hag aus kleinen Porzellantassen mit Goldrand, das
sanfte Plätschern eines Heilbrunnens in Sandsteinverkleidung,
übersichtlich verschachtelte Gassen, über denen weiße
Leuchtgirlandengebilde sanft im Regen wippend die Verlässlichkeit von
Weihnachten propagieren. In all dieser aufgeräumten Gemütlichkeit
also, die einem Wiesbaden entgegenwirft, käme man ganz bestimmt nicht
so schnell auf die Idee, hier eines der lebendigsten Filmfestivals im
deutschsprachigen Raum vorzufinden. Ein Festival, bei dem es neben den neusten
Asia Knallern von Takashi Miike
(AUDDITION) bis Toshiaki
(PORNOSTAR)-Toyoda, Dokumentarfilme über Hip-Hop in Columbien oder
Straßenkreuzungen in Frankfurt zu sehen gibt. Ein Filmfestival, bei
dem man noch tapfer an die Subversivität kleiner US-Indieproduktionen
glaubt und wo selbst die Kurzfilme-/Clip-Schiene nicht halb so anstrengend
ist wie anderswo.
Das EXGROUND Filmfest, jetzt bereits in seinem fünfzehnten Jahr,
lebt vor allem von seiner Vielfältigkeit. Die Macher, allesamt ehrenamtlich
engagiert, sind in den unterschiedlichsten Richtungen am Forschen und Entdecken.
Vor allem geht es darum Konventionen zu sprengen, zu überraschen, eben
Neues, Spannendes und Ungewöhnliches nach Wiesbaden zu bringen. Das
EXGROUND versteht sich dabei klar als Publikumsfestival, für das man
fleißig die Perlen größerer, internationaler Festivals
zusammengetragen hat. Über zehn Tage hinweg konzentriert sich das Programm
vorwiegend auf die Abendstunden, so dass man in der Regel pro Tag angenehme
zwei bis drei Filmen guckt und damit noch genug Zeit und Kraft hat für
eine der vielen netten, das Festival begleitenden Rahmenveranstaltungen und
Parties.
Gesehen:
GRAVEYARD OF HONOR AND HUMANITY
(Japan 2002 von Takashi Miike)
Ein Mann steht schimpfend in Unterhosen auf seinem Balkon. Nebelschwaden
von Tränengas wabern durch das zerbrochene Glas seiner Balkontür,
während er, etwas unkoordiniert, auf die, das Haus umstellt haltenden
Cops zu feuern beginnt, die damit beim besten Willen nicht umzugehen wissen.
Schnitt auf einen Sniper, der trotz all des hektischen Chaos um ihn herum
mit professioneller Gelassenheit sein Gewehr ansetzt. Der Mann im Fadenkreuz;
ein ungläubiger Blick; ein dumpfes Thhwupp; Hirn sprizt gegen die
Fassade.
Nein, Stopp, nochmal zurück. Der Mann steht immer noch schimpfend
in seiner Unterwäsche auf dem Balkon und feuert wütend auf die
hinter Mülltonnen Deckung suchende Polizei. In den letzen eineinhalb
Stunden haben wir diesem Mann dabei zusehen dürfen, wie er sich immer
tiefer in die Scheiße reitet, so tief, dass wir jetzt beinahe unsere
Augen schließen möchten, so sicher sind wir uns mit dem Sniper,
der unter all das jetzt einen Schlusspunkt setzt. Ok, wir sitzen aber in
einem Takashi-Miike-Film und insofern wäre es natürlich auch
möglich, dass dem in die Enge Getriebenen nur die Hand weggeschossen
würde. Die Blutfontäne die daraufhin aus seinem Stumpf schiesst,
würde dann einen Cop, der just in dem Moment die Türe eingetreten
hat, wieder zurück ins Treppenhaus blasen. Aber auch das passiert nicht,
weil Miike selbst inzwischen nicht allzuviel darauf gibt, ob irgendwelche
Langnasen eine eigene Schubladen für ihn offen halten, auf der dann
groß ICHI THE KILLER/DEAD
OR ALIVE oder so etwas steht. Statt also die Welt ein weiteres mal im Zuge
eines Hahnenkampfes in Schutt und Asche zu legen, hat er nun mal eben kurz
einen großen knapp 3 stündigen Yakuza-Film gedreht, bei dem jede
kleine Geste wohl überlegt, kein Bild zuviel, kein Mittel zu streng
erschien.
Als Miike vor ein paar Jahren mit AUDITION beim Filmfest Rotterdam
für den Westen entdeckt wurde, lief dort zeitgleich eine Kinji
Fukasaku-Retrospektive mit all den meisterlich nihilistischen Yakuza-Filmen
mit so wunderbar vielsagenden Titeln wie FIGHT WITHOUT HONOR AND HUMANITY,
mit der Fukasaku Anfang der Siebziger ein neues Genre aus dem verbrannten
Boden Hiroshimas stampfte. Wer das Glück hatte dort gewesen zu sein,
wird bestätigen können, dass man Miike sehr häufig im Kino
antreffen konnte. So gesehen überrascht es vielleicht dann doch nicht,
dass Miike nach AGITATOR nun schon bereits zum zweiten mal in Folge Fukasaku
mit einer großen Homage bedenkt. Miike hat sich Fukasakus wohl
düstersten Yakuza-Film GRAVEYARD OF HONOR AND HUMANITY hergenommen und
die auf einem wahren Fall basierende Geschichte eines Tellerwäschers,
der zunächst zum gefürchteten Yakuza-Killer aufsteigt, um dann
umso tiefer wieder abzustürzen, vom post-apokalyptischen Hiroshima ins
heutige, von der Rezession geschüttelte Japan verlegt.
Sein Rikiuo Ishimatsu (verkörpert von dem sich bis zu völligen
Selbstaufgabe schindenen Theaterschauspieler Goro Kishitani) gerät wegen
seiner stoischen Gewaltbereitschaft ins Visier der Yakuza. Von all den strengen
Gesetzen der Gangster ist es vor allem das Festhalten am einmal eingeschlagenen
Weg, das Rikiuo verinnerlicht hat. Er selbst sagt einmal: ein Yakuza muss
eben seine Jacke weiter zuknöpfen, auch wenn er merkt, dass er sich
dabei vertan hat. Durch ein erstes Missverständniss einmal in Gang gesetzt,
tritt Rikiuo in seinem Starrsinn eine Lawine von Gewalt und Unglück
los, deren Steigerung man, gerade wegen der formalen Strenge des Films, so
kaum für möglich gehalten hätte. Es ist ein langsames, sanftes
Fallen in die Groteske, dem sich Miike hier beim zu Grabe tragen von Ehre
und Menschlichkeit hingibt. Solange bis alles in einem gigantischen Schwall
von Rot wegspült wird.
PROZAC NATION
(USA 2001 von Erik Skjoldbjaerg)
Erik Skjoldbjaerg, von dem auch die höchst gelungene Studie
menschlichen Zerfalls INSOMNIA stammt, aus der dann in der US-Version ein
moralisches Gut-gegen-Böse-Spiel wurde und der, ebenfalls noch im tiefsten
Finnland den gleichfalls schönen Provinz-Horror-Knaller TRACES verwirklichen
konnte, ist kein Mädchen. Sieht man sein US-Debüt PROZAC NATION,
so ist man allerdings gewillt zu glauben, der Gute habe sich beim Einchecken
über den großen Teich gleich auch noch einer offenbar ausgesprochen
schmerzhaft verlaufenden Hormonbehandlung unterzogen. Mit PROZAC NATION
(für den Christina Riccis deutlich ihre Pausbäckchen heruntergehungert
hat) widmet sich SkjoldbjFrg dem Reich introvertierter spätpubertärer
Mädchen, die, wenn sie einem nicht gerade aus dem Off stark autobiographisch
geprägte Lyrik aus ihrem Tagebuch vorlesen, vor allem darum bemüht
sind, sich und andere mit theatralischen Nervenzusammenbrüchen vor
möglichst großem Publikum zu unterhalten. Dabei zuzusehen, wie
die von Ricci verkörperte Elisabeth versucht, sich in Harvard
zurechtzufinden, wie sie sich mit ihrer dominanten Mutter (entsprechend
hysterisch Jesssica Lange) lautstarke Auseinandersetzungen liefert, die
regelmäßig mit lang anhaltendem gemeinsamem Geheule und gegenseitigen
Entschuldigungen enden, lässt einen nach spätestens der Hälfte
dieses Films sich selbst dafür verdammen, nicht ebenfalls vor Beginn
noch Antidepressiva eingeworfen zu haben. Dann folgt auch noch die ganze
Nummer, dass Drogen (vor allem solche, die auch auf Rezept zu bekommen sind)
doch schon irgendwie schlecht und eben auch weit verbreitet sind in dieser
Gesellschaft. Zuletzt darf dann noch die ja durchaus begabte Anne Heche pure
Anteilnahme verkörpern und als Riccis Psychoanalytikerin oft den Kopf
etwas schräg halten und dabei verständnisvoll nicken. Eben.
BLUE SPRING
(Japan 2001 von Toshiaki Toyoda)
Am Ende von BLUE SPRING gibt es eine Szene, die wahrlich mörderisch
zu filmen gewesen sein muss. Hirofumi Arai, einer der zwei jugendlichen
Schüler, um deren Freundschaft dieser Film mehr oder weniger lose kreist,
steht auf dem Dach der Schule und starrt in die Tiefe, während Tag und
Nacht in Zeitraffer an ihm vorbeisausen bis letztlich wieder die Sonne aufgeht.
Vom Stillstand zu erzählen, bekommt wohl niemand so gut hin wie
die Japaner. Dieses: zwei Männer sitzen an der Bar, am Strand, auf dem
Baseballplatz und starren mit leerem Blick in die Weite, bis einer ein Stahlrohr
aufhebt um es dem anderen mit blutigem Plopp über den Schädel zu
ziehen, ohne dabei auch nur im entferntesten seinen Gleichmut zu verlieren,
ja vielleicht nicht mal zu blinzeln, kennt man sonst vielleicht ansatzweise
noch aus den Filmen von Aki Kaurismäki (sofern man Stahlrohr
durch Wodkaflasche und schlagen durch
trinken ersetzt). Nach BLUE SPRING bekommt man eine Ahnung davon,
wo das herkommt.
Schule heisst hier vor allem warten. Die Jungs, die in BLUE SPRING
den kargen Plattenbau einer Schule bevölkern, haben viel mit den ins
Aus beförderten und nun am Strand festsitzenden Yakuzas aus Takeshi
Kitanos SONATINE gemeinsam. Die Zeit rumbringen, sich umbringen, was in die
Hand nehmen, um es mit dem selben Gleichmut wieder fallen zu lassen. Toshiaki
Toyoda, von dem auch der seltsam stimmig neben sich stehende PORNOSTAR stammt,
findet dafür tolle Bilder. Seinen Darstellern, allen voran Hirofumi
Arai sowie dem pozellanpuppig harten Ryhuhei Matsuda, steht bestimmt eine
große Karriere in den eher interessanteren Yakuza-Filmen bevor. Wenn
am Ende zu wunderbar lautem Japan-Krach alles auf die Spitze getrieben wird,
will man ihn wirklich endlich haben, diesen Pathos, der sich da im Stillen
so lange aufgebaut hat, und von den Beinen gerissen wird man dann sowieso
noch.
HOTEL
(Großbritanien/Italien 2001 von Mike Figgis)
Kaum einer arbeitet derzeit mit einem solchen Ehrgeiz und Erfolg an
der Weiterführung dessen, was vor ein paar Jahren in Dänemark unter
dem Stichwort Dogma seinen Anfang nahm, wie der sympathische
Brite Mike Figgis. Spätestens nach
TIMECODE und erst recht nach HOTEL
darf nun wohl von Post-Dogma die Rede sein. Die erzählerischen
Möglichkeiten, die Figgis in HOTEL mal so eben, zugegebenerweise etwas
gebündelt, aufzeigt, lassen einen die Größe dieses Eisberges
ahnen, der da auf den schweren Frachter Hollywood zutreibt. O.k., aber ist
das jetzt auch interessant für Leute, die das Manual zu FinalCut Pro
für nicht soviel spannender halten als den neuen John Grisham. Auf jeden
Fall, und das ist wohl darauf zurückzuführen, dass Figgis eben
auch ein verdammt guter Musiker ist und Kino noch nie so nahe dran war am
großen perfekten Song wie zur Zeit.
Wie HALBE TREPPE beginnt
HOTEL erst einmal als Versuchsanordnung. Figgis hat Rhys Ifans, Lucy Liu,
Salma Hayek, John Malkovich, Burt Reynolds, Ornella Muti, David Schwimmer
sowie natürlich wie immer auch Julian Sands und noch ein paar hochbegabte
Mimen nach Venedig eingeladen, um diese dort die Duchess of Malfi improvisieren
zu lassen. Als Dogmafilm-im-Film natürlich, und weil das an und für
sich vielleicht auch für Leute, die nicht regelmäßig ins
Theater gehen, interessant sein soll, darf man sich außerdem auf
kannibalistische Fremdenführer, harten wie unheimlichen S&M-Lesbensex,
Flamenco und Vampire freuen. Um das alles stimmig und ohne Durchhänger
unter einen Hut zu bekommen, fährt Figgis so ziemlich jeden vorstellbaren
Trick auf und erfindet kurz mal eben noch ein paar neue. Mit DV zu filmen
sah nie eleganter aus als hier, bei Splitscreen kann ihm nach TIMECODE sowieso
niemand mehr was vormachen, und was er aus seinemCast herauszuholen vermag,
ist sowieso der Knaller.
DIE MONSTERINSEL
(Deutschland 2002 von Jörg Buttgereit)
Buttgereit, eigentlich prädestiniert dazu, den Neuen Deutschen
Film aus seinem Jammertal zu führen, hat sich einen Kindheitstraum
erfüllt und ist dem großen, grünen Riesen nach Japan gefolgt.
Stuntman und Godzilla-Darsteller Harno Nakajima erzählt von seinen
mörderisch heißen Fights in engen Gummi-Kostümen. Filmemacher,
Produzenten und Special Effects-Jungs philosophieren über die mystischen
Wurzeln des Monsterfilme-Kults in Japan und erzählen, wie in den neueren
Produktionen feinstes CGI mit kindlicher Unschuld ringt. Neben den ebenso
höchst interessanten wie amüsanten Interviews bilden die zahlreichen
Ausschnitte aus neuen wie alten Monsterfilmen, geschickt verknüpft mit
den deutschen Original-Trailern aus den frühen Achtzigern (Sprecher,
mit ernstem Pathos: King Kong, der Sohn Frankensteins zwischen zwei
Fronten!!!) die ganz große Nostalgie-Packung. Ab jetzt wieder
jeden Sonntag Nachmittag Jugendvorstellung bitte.
TANKEN ESSEN BETEN
(Deutschland 2002 von Stefan Blau)
Der Dokumentarfilm als Reality-Konzept. Stefan Blau und sein Team
haben die viel befahrene Frankfurter Strassenkreuzung Eckenheimer
Landstrasse/Nibelungenallee ins Visier genommen, an der sich neben einer
großen Tankstelle mit integriertem McDonalds, einem Thai/Pizza Dienst,
der Friedhofsgärtnerei, einer Apotheke sowie einem Griechen eben auch
die Deutsche Bibliothek sowie eine Freie-Christen Gemeinde angesiedelt haben.
24 Stunden im Sommer, komprimiert auf lockere 73 Minuten, in denen man
ritualisierte Lebensabläufe, meist im 8 Stunden-Arbeitsabschnitte
zerfallend, aufs nachvollziehbarste mitverfolgen darf. Mehr davon und ich
bräuchte keinen Fuß mehr vor die Türe setzen.
Leider verpasst:
Leider nicht mehr sehen konnte ich die zwei sehr interessanten neuen
Filme von Shinji Aoyama (EUREKA). Zum
einen DESERT MOON (TSUKI NO SABAKU), der klingt wie ein etwas weniger greller
VISITOR Q und davon erzählt, wie ein junger Außenseiter in die
zerbrochene Familie eines Start-up-Verlierers tritt und dort alles wieder
in Bewegung bringt. Zum anderen, die wunderbar seltsame Hardboiled-Geschichte
MIKE YOKOHAMA - A FOREST WITH NO
NAME, in welcher ein Privatdetektiv in einem Sanatorium für geistig
Kranke versumpft, um irgendwann aufzubrechen um den Baum ohne Namen zu finden,
der ihm irgendwie ähnlich sehen soll.
Auch gab es auf dem 15. EXGROUND noch Wisi Sasanatiengs technicolor-bunten
Thai-Western TEARS OF THE BLACK TIGER sowie den poppigen Sixtys-Knaller CANDY
von Christian Marquand, in dem Richard Burton einen sexgeilen Herny
Miller-Abklatsch zum besten gibt, Ringo Starr als jungfräulicher,
mexikanischer Gärtner überzeugt und wo auch noch James Coburn als
egomaner Chirurg und letzlich Marlon Brando als Guru auftauchen.
Der beste David Lynch-Film, mit welchem dieser nun rein gar nichts
zu tun hatte, sprich: Richard Kellys DONNIE DARKO lief (wie in diesem Jahr
bereits auch auf dem Fantasy Filmfest) im übrigen auch noch auf dem
15. EXGROUND und hoffentlich demnächst auch einmal regulär im
Kino.
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