15. EXGROUND Filmfest (15 - 24.11.2002 / Wiesbaden)

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15. EXGROUND Filmfest (15 - 24.11.2002 / Wiesbaden)
Bericht von Sebastian Selig


Blue Spring

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Café Hag aus kleinen Porzellantassen mit Goldrand, das sanfte Plätschern eines Heilbrunnens in Sandsteinverkleidung, übersichtlich verschachtelte Gassen, über denen weiße Leuchtgirlandengebilde sanft im Regen wippend die Verlässlichkeit von Weihnachten propagieren. In all dieser aufgeräumten Gemütlichkeit also, die einem Wiesbaden entgegenwirft, käme man ganz bestimmt nicht so schnell auf die Idee, hier eines der lebendigsten Filmfestivals im deutschsprachigen Raum vorzufinden. Ein Festival, bei dem es neben den neusten Asia Knallern von Takashi Miike (AUDDITION) bis Toshiaki (PORNOSTAR)-Toyoda, Dokumentarfilme über Hip-Hop in Columbien oder Straßenkreuzungen in Frankfurt zu sehen gibt. Ein Filmfestival, bei dem man noch tapfer an die Subversivität kleiner US-Indieproduktionen glaubt und wo selbst die Kurzfilme-/Clip-Schiene nicht halb so anstrengend ist wie anderswo.

Das EXGROUND Filmfest, jetzt bereits in seinem fünfzehnten Jahr, lebt vor allem von seiner Vielfältigkeit. Die Macher, allesamt ehrenamtlich engagiert, sind in den unterschiedlichsten Richtungen am Forschen und Entdecken. Vor allem geht es darum Konventionen zu sprengen, zu überraschen, eben Neues, Spannendes und Ungewöhnliches nach Wiesbaden zu bringen. Das EXGROUND versteht sich dabei klar als Publikumsfestival, für das man fleißig die Perlen größerer, internationaler Festivals zusammengetragen hat. Über zehn Tage hinweg konzentriert sich das Programm vorwiegend auf die Abendstunden, so dass man in der Regel pro Tag angenehme zwei bis drei Filmen guckt und damit noch genug Zeit und Kraft hat für eine der vielen netten, das Festival begleitenden Rahmenveranstaltungen und Parties.

Gesehen:

GRAVEYARD OF HONOR AND HUMANITY

(Japan 2002 von Takashi Miike)

Ein Mann steht schimpfend in Unterhosen auf seinem Balkon. Nebelschwaden von Tränengas wabern durch das zerbrochene Glas seiner Balkontür, während er, etwas unkoordiniert, auf die, das Haus umstellt haltenden Cops zu feuern beginnt, die damit beim besten Willen nicht umzugehen wissen. Schnitt auf einen Sniper, der trotz all des hektischen Chaos um ihn herum mit professioneller Gelassenheit sein Gewehr ansetzt. Der Mann im Fadenkreuz; ein ungläubiger Blick; ein dumpfes Thhwupp; Hirn sprizt gegen die Fassade.

Nein, Stopp, nochmal zurück. Der Mann steht immer noch schimpfend in seiner Unterwäsche auf dem Balkon und feuert wütend auf die hinter Mülltonnen Deckung suchende Polizei. In den letzen eineinhalb Stunden haben wir diesem Mann dabei zusehen dürfen, wie er sich immer tiefer in die Scheiße reitet, so tief, dass wir jetzt beinahe unsere Augen schließen möchten, so sicher sind wir uns mit dem Sniper, der unter all das jetzt einen Schlusspunkt setzt. Ok, wir sitzen aber in einem Takashi-Miike-Film und insofern wäre es natürlich auch möglich, dass dem in die Enge Getriebenen nur die Hand weggeschossen würde. Die Blutfontäne die daraufhin aus seinem Stumpf schiesst, würde dann einen Cop, der just in dem Moment die Türe eingetreten hat, wieder zurück ins Treppenhaus blasen. Aber auch das passiert nicht, weil Miike selbst inzwischen nicht allzuviel darauf gibt, ob irgendwelche Langnasen eine eigene Schubladen für ihn offen halten, auf der dann groß ICHI THE KILLER/DEAD OR ALIVE oder so etwas steht. Statt also die Welt ein weiteres mal im Zuge eines Hahnenkampfes in Schutt und Asche zu legen, hat er nun mal eben kurz einen großen knapp 3 stündigen Yakuza-Film gedreht, bei dem jede kleine Geste wohl überlegt, kein Bild zuviel, kein Mittel zu streng erschien.

Als Miike vor ein paar Jahren mit AUDITION beim Filmfest Rotterdam für den Westen entdeckt wurde, lief dort zeitgleich eine Kinji Fukasaku-Retrospektive mit all den meisterlich nihilistischen Yakuza-Filmen mit so wunderbar vielsagenden Titeln wie FIGHT WITHOUT HONOR AND HUMANITY, mit der Fukasaku Anfang der Siebziger ein neues Genre aus dem verbrannten Boden Hiroshimas stampfte. Wer das Glück hatte dort gewesen zu sein, wird bestätigen können, dass man Miike sehr häufig im Kino antreffen konnte. So gesehen überrascht es vielleicht dann doch nicht, dass Miike nach AGITATOR nun schon bereits zum zweiten mal in Folge Fukasaku mit einer großen Homage bedenkt. Miike hat sich Fukasakus wohl düstersten Yakuza-Film GRAVEYARD OF HONOR AND HUMANITY hergenommen und die auf einem wahren Fall basierende Geschichte eines Tellerwäschers, der zunächst zum gefürchteten Yakuza-Killer aufsteigt, um dann umso tiefer wieder abzustürzen, vom post-apokalyptischen Hiroshima ins heutige, von der Rezession geschüttelte Japan verlegt.

Sein Rikiuo Ishimatsu (verkörpert von dem sich bis zu völligen Selbstaufgabe schindenen Theaterschauspieler Goro Kishitani) gerät wegen seiner stoischen Gewaltbereitschaft ins Visier der Yakuza. Von all den strengen Gesetzen der Gangster ist es vor allem das Festhalten am einmal eingeschlagenen Weg, das Rikiuo verinnerlicht hat. Er selbst sagt einmal: ein Yakuza muss eben seine Jacke weiter zuknöpfen, auch wenn er merkt, dass er sich dabei vertan hat. Durch ein erstes Missverständniss einmal in Gang gesetzt, tritt Rikiuo in seinem Starrsinn eine Lawine von Gewalt und Unglück los, deren Steigerung man, gerade wegen der formalen Strenge des Films, so kaum für möglich gehalten hätte. Es ist ein langsames, sanftes Fallen in die Groteske, dem sich Miike hier beim zu Grabe tragen von Ehre und Menschlichkeit hingibt. Solange bis alles in einem gigantischen Schwall von Rot wegspült wird.

PROZAC NATION

(USA 2001 von Erik Skjoldbjaerg)

Erik Skjoldbjaerg, von dem auch die höchst gelungene Studie menschlichen Zerfalls INSOMNIA stammt, aus der dann in der US-Version ein moralisches Gut-gegen-Böse-Spiel wurde und der, ebenfalls noch im tiefsten Finnland den gleichfalls schönen Provinz-Horror-Knaller TRACES verwirklichen konnte, ist kein Mädchen. Sieht man sein US-Debüt PROZAC NATION, so ist man allerdings gewillt zu glauben, der Gute habe sich beim Einchecken über den großen Teich gleich auch noch einer offenbar ausgesprochen schmerzhaft verlaufenden Hormonbehandlung unterzogen. Mit PROZAC NATION (für den Christina Riccis deutlich ihre Pausbäckchen heruntergehungert hat) widmet sich SkjoldbjFrg dem Reich introvertierter spätpubertärer Mädchen, die, wenn sie einem nicht gerade aus dem Off stark autobiographisch geprägte Lyrik aus ihrem Tagebuch vorlesen, vor allem darum bemüht sind, sich und andere mit theatralischen Nervenzusammenbrüchen vor möglichst großem Publikum zu unterhalten. Dabei zuzusehen, wie die von Ricci verkörperte Elisabeth versucht, sich in Harvard zurechtzufinden, wie sie sich mit ihrer dominanten Mutter (entsprechend hysterisch Jesssica Lange) lautstarke Auseinandersetzungen liefert, die regelmäßig mit lang anhaltendem gemeinsamem Geheule und gegenseitigen Entschuldigungen enden, lässt einen nach spätestens der Hälfte dieses Films sich selbst dafür verdammen, nicht ebenfalls vor Beginn noch Antidepressiva eingeworfen zu haben. Dann folgt auch noch die ganze Nummer, dass Drogen (vor allem solche, die auch auf Rezept zu bekommen sind) doch schon irgendwie schlecht und eben auch weit verbreitet sind in dieser Gesellschaft. Zuletzt darf dann noch die ja durchaus begabte Anne Heche pure Anteilnahme verkörpern und als Riccis Psychoanalytikerin oft den Kopf etwas schräg halten und dabei verständnisvoll nicken. Eben.

BLUE SPRING

(Japan 2001 von Toshiaki Toyoda)

Am Ende von BLUE SPRING gibt es eine Szene, die wahrlich mörderisch zu filmen gewesen sein muss. Hirofumi Arai, einer der zwei jugendlichen Schüler, um deren Freundschaft dieser Film mehr oder weniger lose kreist, steht auf dem Dach der Schule und starrt in die Tiefe, während Tag und Nacht in Zeitraffer an ihm vorbeisausen bis letztlich wieder die Sonne aufgeht.

Vom Stillstand zu erzählen, bekommt wohl niemand so gut hin wie die Japaner. Dieses: zwei Männer sitzen an der Bar, am Strand, auf dem Baseballplatz und starren mit leerem Blick in die Weite, bis einer ein Stahlrohr aufhebt um es dem anderen mit blutigem Plopp über den Schädel zu ziehen, ohne dabei auch nur im entferntesten seinen Gleichmut zu verlieren, ja vielleicht nicht mal zu blinzeln, kennt man sonst vielleicht ansatzweise noch aus den Filmen von Aki Kaurismäki (sofern man „Stahlrohr“ durch „Wodkaflasche“ und „schlagen“ durch „trinken“ ersetzt). Nach BLUE SPRING bekommt man eine Ahnung davon, wo das herkommt.

Schule heisst hier vor allem warten. Die Jungs, die in BLUE SPRING den kargen Plattenbau einer Schule bevölkern, haben viel mit den ins Aus beförderten und nun am Strand festsitzenden Yakuzas aus Takeshi Kitanos SONATINE gemeinsam. Die Zeit rumbringen, sich umbringen, was in die Hand nehmen, um es mit dem selben Gleichmut wieder fallen zu lassen. Toshiaki Toyoda, von dem auch der seltsam stimmig neben sich stehende PORNOSTAR stammt, findet dafür tolle Bilder. Seinen Darstellern, allen voran Hirofumi Arai sowie dem pozellanpuppig harten Ryhuhei Matsuda, steht bestimmt eine große Karriere in den eher interessanteren Yakuza-Filmen bevor. Wenn am Ende zu wunderbar lautem Japan-Krach alles auf die Spitze getrieben wird, will man ihn wirklich endlich haben, diesen Pathos, der sich da im Stillen so lange aufgebaut hat, und von den Beinen gerissen wird man dann sowieso noch.

HOTEL

(Großbritanien/Italien 2001 von Mike Figgis)

Kaum einer arbeitet derzeit mit einem solchen Ehrgeiz und Erfolg an der Weiterführung dessen, was vor ein paar Jahren in Dänemark unter dem Stichwort „Dogma“ seinen Anfang nahm, wie der sympathische Brite Mike Figgis. Spätestens nach TIMECODE und erst recht nach HOTEL darf nun wohl von Post-Dogma die Rede sein. Die erzählerischen Möglichkeiten, die Figgis in HOTEL mal so eben, zugegebenerweise etwas gebündelt, aufzeigt, lassen einen die Größe dieses Eisberges ahnen, der da auf den schweren Frachter Hollywood zutreibt. O.k., aber ist das jetzt auch interessant für Leute, die das Manual zu FinalCut Pro für nicht soviel spannender halten als den neuen John Grisham. Auf jeden Fall, und das ist wohl darauf zurückzuführen, dass Figgis eben auch ein verdammt guter Musiker ist und Kino noch nie so nahe dran war am großen perfekten Song wie zur Zeit.

Wie HALBE TREPPE beginnt HOTEL erst einmal als Versuchsanordnung. Figgis hat Rhys Ifans, Lucy Liu, Salma Hayek, John Malkovich, Burt Reynolds, Ornella Muti, David Schwimmer sowie natürlich wie immer auch Julian Sands und noch ein paar hochbegabte Mimen nach Venedig eingeladen, um diese dort die Duchess of Malfi improvisieren zu lassen. Als Dogmafilm-im-Film natürlich, und weil das an und für sich vielleicht auch für Leute, die nicht regelmäßig ins Theater gehen, interessant sein soll, darf man sich außerdem auf kannibalistische Fremdenführer, harten wie unheimlichen S&M-Lesbensex, Flamenco und Vampire freuen. Um das alles stimmig und ohne Durchhänger unter einen Hut zu bekommen, fährt Figgis so ziemlich jeden vorstellbaren Trick auf und erfindet kurz mal eben noch ein paar neue. Mit DV zu filmen sah nie eleganter aus als hier, bei Splitscreen kann ihm nach TIMECODE sowieso niemand mehr was vormachen, und was er aus seinemCast herauszuholen vermag, ist sowieso der Knaller.

DIE MONSTERINSEL

(Deutschland 2002 von Jörg Buttgereit)

Buttgereit, eigentlich prädestiniert dazu, den Neuen Deutschen Film aus seinem Jammertal zu führen, hat sich einen Kindheitstraum erfüllt und ist dem großen, grünen Riesen nach Japan gefolgt. Stuntman und Godzilla-Darsteller Harno Nakajima erzählt von seinen mörderisch heißen Fights in engen Gummi-Kostümen. Filmemacher, Produzenten und Special Effects-Jungs philosophieren über die mystischen Wurzeln des Monsterfilme-Kults in Japan und erzählen, wie in den neueren Produktionen feinstes CGI mit kindlicher Unschuld ringt. Neben den ebenso höchst interessanten wie amüsanten Interviews bilden die zahlreichen Ausschnitte aus neuen wie alten Monsterfilmen, geschickt verknüpft mit den deutschen Original-Trailern aus den frühen Achtzigern (Sprecher, mit ernstem Pathos: „King Kong, der Sohn Frankensteins zwischen zwei Fronten!!!“) die ganz große Nostalgie-Packung. Ab jetzt wieder jeden Sonntag Nachmittag „Jugendvorstellung“ bitte.

TANKEN ESSEN BETEN

(Deutschland 2002 von Stefan Blau)

Der Dokumentarfilm als Reality-Konzept. Stefan Blau und sein Team haben die viel befahrene Frankfurter Strassenkreuzung Eckenheimer Landstrasse/Nibelungenallee ins Visier genommen, an der sich neben einer großen Tankstelle mit integriertem McDonalds, einem Thai/Pizza Dienst, der Friedhofsgärtnerei, einer Apotheke sowie einem Griechen eben auch die Deutsche Bibliothek sowie eine Freie-Christen Gemeinde angesiedelt haben. 24 Stunden im Sommer, komprimiert auf lockere 73 Minuten, in denen man ritualisierte Lebensabläufe, meist im 8 Stunden-Arbeitsabschnitte zerfallend, aufs nachvollziehbarste mitverfolgen darf. Mehr davon und ich bräuchte keinen Fuß mehr vor die Türe setzen.

Leider verpasst:

Leider nicht mehr sehen konnte ich die zwei sehr interessanten neuen Filme von Shinji Aoyama (EUREKA). Zum einen DESERT MOON (TSUKI NO SABAKU), der klingt wie ein etwas weniger greller VISITOR Q und davon erzählt, wie ein junger Außenseiter in die zerbrochene Familie eines Start-up-Verlierers tritt und dort alles wieder in Bewegung bringt. Zum anderen, die wunderbar seltsame Hardboiled-Geschichte MIKE YOKOHAMA - A FOREST WITH NO NAME, in welcher ein Privatdetektiv in einem Sanatorium für geistig Kranke versumpft, um irgendwann aufzubrechen um den Baum ohne Namen zu finden, der ihm irgendwie ähnlich sehen soll.

Auch gab es auf dem 15. EXGROUND noch Wisi Sasanatiengs technicolor-bunten Thai-Western TEARS OF THE BLACK TIGER sowie den poppigen Sixtys-Knaller CANDY von Christian Marquand, in dem Richard Burton einen sexgeilen Herny Miller-Abklatsch zum besten gibt, Ringo Starr als jungfräulicher, mexikanischer Gärtner überzeugt und wo auch noch James Coburn als egomaner Chirurg und letzlich Marlon Brando als Guru auftauchen.

Der beste David Lynch-Film, mit welchem dieser nun rein gar nichts zu tun hatte, sprich: Richard Kellys DONNIE DARKO lief (wie in diesem Jahr bereits auch auf dem Fantasy Filmfest) im übrigen auch noch auf dem 15. EXGROUND und hoffentlich demnächst auch einmal regulär im Kino. 

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