Das Ausscheiden der deutschen Mannschaft fand für mich in
arabischer Sprache statt. Im Foyer des HAU 3, eher lustlos gefüllt,
stehen, rauchen, sitzen junge Menschen und verfolgen, oder auch nicht, das
Geschehen auf dem Bildschirm des Fernsehers, der da in der Ecke steht, nicht
das Zentrum des Raums, aber auch nicht verschämt platziert. Wer es sehen
will, der sehe. Als ich aufbrach von zuhause, mit dem Rad, ich war
überrascht, wie kühl es geworden war, stand es einszunull für
Deutschland, sehr schönes Tor von Ballack. M. hatte angerufen, vorher
noch, er sei jetzt früher fertig und die üblichen Verdächtigen
würden sich versammeln, um Fußball zu sehen. Tut mir Leid, sagte
ich, aber ich muss ins Theater, Karte gekauft, vor längerem schon,
Terminüberschneidungen nicht abzusehen. Und, übrigens, ich hätte
noch eine Karte übrig, S. macht eine Reise nach Petuschki. M. wollte
lieber Fußball sehen.
Im Foyer die Menschen, der Fernseher, recht still ist es, man hört
den Kommentator (es war einer der beiden furchtbaren, natürlich,
Kernerbeckmann, will, kann das gar nicht mehr unterscheiden; Bela Rethy,
der ist ok, wirklich), es steht inzwischen einszuseins, aha, die Vorstellung
verzögert sich um zehn Minuten. Nicht wegen Fußball, sagt ein
mitteljunger Mensch mit Brille, der unbestimmt zuständig scheint, es
kommen noch Leute vom HAU 1 rüber. Pause, einseins, Neuankömmlinge
sind nicht zu bemerken, Tür auf, hinein in den Saal, ein Stuhl auf noch
abgedunkelter Bühne, mit einem weißen Bademantel darüber.
In der Mitte platziert: ein Tischchen mit etwas darauf, ein Mikro davor.
Eine merkwürdige Rahmenkonstruktion, ein Fenster, aber mitten im Zimmer,
metallen umrandet, ein Vorhang, dunkelrot und dunkelblau, scheint jedenfalls
so, im Dunkeln, Halbdunkeln der Vorbeginnstimmung. Türen dann zu, gar
nicht voll, durch den Vorhang, der aber auch nur mitten im Raum die Szene
gibt, sich nicht fortsetzt zu den Seiten hin, tritt Lina Saneh.
Spot an. Spot auf das Tischschen, auf dem, nun zu erkennen, ein
Kassettenrekorder steht. Die Frau, in weiß, nimmt eine Kassette, steckt
sie in das Gerät, klappt zu, drückt den Knopf. Es beginnt ein
Interview, alles in arabischer Sprache, ich eile den Übertiteln hinterher.
Die Stimme auf dem Band fragt, Lina Saneh antwortet. Immer rascher, immer
inquisitorischer. Biografisches, der Titel des Abends "Biokraphia" setzt
sich zusammen aus "bios", erklärt Saneh, der Frau, die fragt, mit ihrer
Stimme, vom Band. Und "kraphia" heiße Scheiße.
Scheißlebensbeschreibung. Verantwortlich zeichnet Rabih Mroués.
Das Band fragt. Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit. Theater im Libanon,
ist das, was du machst Theater. Spielst du eine Rolle. Verrätst du nicht
deine Heimat, bis du nicht in Paris ausgebildet.
Scheißselberlebensbefragung. Fragen zur Kunst, dann Fragen intimerer
Art. Wie oft schläfst Du mit deinem Mann? Es geht dich nichts an. Welche
Stellungen bevorzugst du. Es geht dich nichts an. Dann füllt sich die
Scheibe des Rahmens in der Mitte des Raums. Milchiges Wasser, das Gesicht
von Lina Saneh verschwindet, wird ersetzt durch eine schattenhafte Projektion
auf der Milchglasscheibe. Die Fragen gehen weiter, die Antworten auch. Jetzt
aber beides vom Band, Saneh setzt sich auf den Stuhl, zieht den Bademantel
über.
Dann lässt sie das milchige Wasser ab, füllt es in kleine
Fläschchen. Der Spot nun etwas unangenehm auf das Publikum, das stutzt.
Schon vorbei? Keine dreißig Minuten vergangen. Saneh packt die
Fläschchen, auf denen ihr Gesicht zu sehen ist, auf ein Tablett, baut
einen Sitz auf vor dem Ausgang, hängt ein Schild davor: meine Seele
zu verkaufen, 55 Euro pro Fläschchen. Das Publikum ist verwirrt, Fragen,
Repliken nun von arabisch sprechenden Besuchern. Einer legt einen Euro hin,
nimmt eine Flasche, die Schauspielerin wirkt irritiert, sagt aber nichts.
Andere gehen, ohne zu zahlen. Eine Frau gibt immerhin fünf Euro. Sie
kommt bald darauf zurück und sagt etwas wie: astreines Zeug. Ich schwebe,
sagt sie. Es beginnt nach Ouzo zu riechen. Ich weiß nicht, was ich
tun soll, ich weiß nicht, ob die Vorstellung vorbei ist oder ob ich
bis zum Schluss bleiben muss, um bis zum Schluss geblieben zu sein. Vorbei
ist, denke ich kurz, wenn alle gegangen sind. Dann dämmert mir, dass
ja kaum Zeit vergangen ist, dass draußen noch Fußball sein
müsste.
Ich eile nach draußen, ins Foyer, Tatsache, sie spielen noch,
einszuzwei. Dreinull im anderen Spiel. Ich muss lachen. Gesten ostentativen
Jubels bei anderen Besuchern. Ich bleibe bis kurz vor Schluss, dann fahre
ich nach Hause, will hören, was alle zu sagen haben. S. ist zurück
aus Petuschki. Sehe zuhause die Chancen der zweiten Halbzeit. Was passierte,
während ich arabisches Theater sah. Falls es Theater war.
Milchglasselberlebensscheißbefragung. Deppen Europas. Ich muss nochmal
lachen. |