Theater Corner: X Wohnungen (Hau, Berlin-Friedrichshain, Juni 2004)

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Theater Corner
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Magazin für Theater  & Kritik:
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X Wohnungen (Hau, Berlin-Friedrichshain, Juni 2004)

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X Wohnungen (Hau, Berlin-Friedrichshain, Juni 2004)
Kritik von Ekkehard Knörer

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X Wohnungen. Treffpunkt Nöldner Bistro am Nöldnerplatz. Wo das ist, sagt uns die Karte, aber wir müssen die Räder unter der S-Bahn durchtragen, verirrt, verwirrt im gar nicht allzu fernen Berliner Osten. Ein Katzensprung vom Friedrichshain, andere Welt, ein Strich DDR, unverwässert fast, noch dazwischen, direkt vorm Ostkreuz. Im Fenster hängt eine lädierte junge Boxerin, HAU, Hebbel am Ufer, Außenstelle Lichtenberg. X Wohnungen und sieben Mal Theater. Harun Farocki, der hier um die Ecke wohnt, macht mit und lädt die Theaterbesucher, die Real-Life-Verrückten zu sich nach Hause. Danach Fatih Akin, der ein paar Straßen weiter etwas angerichtet hat, aber ohne uns. Die Prominenz ist die A-Tour, wir haben die B-Tour erwischt. Thomas Arslan ist in Kreuzberg zugange, aber da leben wir selbst, da wollen wir nicht Voyeure spielen.

Zu zwein begeht man das Privat-Theater, die Heim-Bühnen, aber eine Frau sitzt da, im Nöldner Bistro, unter den Stammgästen, die irgendwann neugierig nach einem Programm verlangen und mit krauser Stirn sich fragen, was das alles soll, die Frau hier am Tisch im Freien hat einen bestellt, der sie nicht abholt, kommt mit uns, ist die Pressetante der Bundeskulturstiftung. Die haben das zu wesentlichen Teilen finanziert, sie ist in Ordnung. Erst mal ein gutes Stück zu Fuß, das wird so weiter gehen, beachtliche Strecken zwischen den Wohnungen, zweimal ein Auto-Shuttle, sonst aber Lichtenberg-Trottoir. Die erste Wohnung, drei Vietnamesen braten Nürnberger Würstchen und servieren es sich und der älteren Frau, die die spielt, die hier wohnt - während die, die hier wirklich wohnt, nicht da ist, das erfahren wir auf Nachfrage, wie überhaupt das Fragen die ganzen fragilen Realfiktionsarrangements immer wieder vereindeutigend aus der Balance bringt. Dann geht eine Streiterei los, die die armen Laien dazu verdonnert, sich wahnsinnig rassistische Beschimpfungen an den Kopf zu werfen, bzw. sich anzuhören. Das ist peinlich, das tut weh, das kann nur besser werden.

Es wird besser. Shuttle, am Wegesrand die Ankündigung des ersten Lichtenberger Sonnenblumenlabyrinths. Dann Familie Matthes, die Schuhe ausziehen, ins Wohnzimmer bitte. Viele Aquarien hier. Auf dem Tisch ein Laptop, auf dessen Monitor stumm eine Frau spricht. Auf dem Fernsehbildschirm zu sehen: das Haus, in dem wir sind, eine junge Frau, die erzählt, wie es hier war, in der Dolgenseestraße, früher, als sie klein war. Alles heißt hier Dolgenseestraße, die Anweisungen wie bei der Schnitzeljagd: "Biegen Sie links in die Dolgenseestr. ein; rechts in die Dolgenseestr.; links in die Dolgeenseestr." Akkurate Beschreibung, silbernes Hebbel-Theater-Graffiti mit Orientierungspfeilen auf dem Asphalt. Dann kommt die Frau herein, die stumm auf dem Laptop war. Dann kommt die junge Frau herein, die im Video zu sehen und zu hören war. Die ältere Frau erzählt, aber zunächst nicht sie selbst, sondern in der jetzt laut gestellten Laptop-Aufnahme, wie sie ihren Mann kennenlernte, dann kommt ihr Mann herein, mit dem Bohrer, dann kommt die junge Frau herein, stöpselt die Kopfhörer in den Laptop, und spricht nach, was die Frau, jetzt technisch verstummt, sagt, während Frau Matthes, die wirkliche (und sie ist die wirkliche wirkliche Frau Matthes), stumm ist und dann auch redet. Erzählt, wie sie ihren Mann kennengelernt hat. Der betätigt immer wieder den Bohrer. Der ist laut. Viele Aquarien, eines davon ist dann auch auf dem Bildschirm zu sehen. Wir gehen, wir ziehen die Schuhe wieder an, die nächste Gruppe wartet schon.

Dann Renate. Renate sitzt im Sessel, angeschlossen an einen Lügendetektor. Da steht: Lügendetektor. Ob das Attrappe ist, wer kann es sagen. Nur einmal wird die rote Lampe aufleuchten, ein einziges Mal. Dabei redet Renate viel, ihr gegenüber der Interviewer, der sie zu ihrem Leben befragt. Der Mann, der früh starb, der Sinn, den Renate dann fand, fürs Leben, im Päppeln von Hunden zum einen, im Sammeln von Autogrammen zum anderen. Mehrere Häufchen Fotoalben, randvoll mit Bildern, auf denen Renate neben Prominenten steht. Auf dem Fernsehbildschirm tanzt sie mit Stefan Raab eine Polonäse. So ein Hund mit Durchfall macht mir gar nichts aus. Bloss nicht anfassen, hat Inge Meysel gesagt. Aber das Foto gibt es. Renate neben Inge Meysel, Renate neben Dieter Bohlen (zweimal!), Renate neben GG Anderson, Renate neben werwardasnochmal. Renate redet und redet und besser als Alkohol ist das in jedem Fall, sagt sie.

Langer Fußmarsch, Straße "Am Tierpark", Hotel "Abacus am Tierpark" drei fette Reisebusse davor, beim Netto eine lange Schlange an der Kasse, es ist kurz vor acht am Donnerstag abend. Familie Blum, ein älteres Ehepaar, Schuhe ausziehen bitte, auf die Couch bitte, nicht den Kopf an der Lampe anstoßen. Ich werde jetzt "Am Brunnen vor dem Tore" singen, sagt Herr Blum. Er singt "Am Brunnen vor dem Tore". Die Hebbel-Theater-Begleitperson (mindestens eine in jeder Wohnung) fordert uns auf, den Raum zu verlassen, platziert uns als Publikum vor dem Schlafzimmer. Die Jalousien sind heruntergelassen, der Raum ist künstlich erleuchtet. Gesang, schauderhaft falscher Gesang, die Tonquelle ist nicht zu sehen. Ein Lied über verletzte Liebe, auf englisch, mal Fetzen, mal ganze Sätze, schrecklich falsch gesungen, die Frau, die das singt, trifft kaum einen Ton. Aber sie leidet entsetzliche Qualen. Plötzlich, ein Schock beinahe, tritt sie auf, bewegt sich langsam, rückwärts hinter dem Wandschrank hervor. Eine blonde Frau, im Funkenmariechenkleid, mit angeklebtem Bart. Sie singt, sie brüllt (beinahe) im Schmerz, der ein Liebesschmerz ist, sie hat die Augen geschlossen, Kopfhörer auf den Ohren. Sie singt, lange, quälend lange Minuten. Dann verstummt sie, öffnet die Augen. Sieht uns an, macht ein Licht nach dem anderen aus, schließt die Tür. Ende der Show. Beinahe zittere ich.

Kurzer Weg in die kurze Straße. Hund, Katze, Kind, auf der Couch eine Frau um die dreißig. Ein Beamer, ein Video an der Wand, dreimal geloopt, dann ist das vorbei, wir dürfen Fragen stellen. Auf dem Video ein Mädchen, das sich die Schuhe nicht putzt, das sich in die Pfütze legt, bevor es die Wohnung betritt. Welchen Reim sie sich darauf macht. Sie weiß es nicht. Die Künstlerin hat Bilder von der Wohnung, vom Sohn, von der Frau bekommen, dann das Video gedreht, am Ende wird zu fröhlicher Musik ein Tor über den Rasen gezogen.

Die letzten beiden Wohnungen stehen leer, sind angeeignet, sind zur Geisterbahn, zur Themenshow umgebaut. Unglaubliche Schwüle, Hitze in der ersten, ein großes Zimmer mit einem Pflanzenarrangement, dazwischen eine rissige braune Couch, im Nebenzimmer eine Sonnenbank. In der Küche Töpfe mit Wasser auf dem Herd, daher die entsetzliche Luftfeuchtigkeit. Die Bundeskulturstiftung gerät sehr ins Schwitzen, ich auch. Dann tauchen ein junger Mann, eine junge Frau auf, Thailänder vielleicht, sind erst sehr freundlich, verstehen kein Wort, sprechen in der Sprache, die wir nicht verstehen mit uns. In einem Raum Poster an der Wand, Yvonne Catterfeld, Anastacia und Thai-Stars. Plötzlich ein Schrei, die Frau rennt davon, Lärm, Unaussprechliches scheint vorzugehen. Dann Ruhe. Dann werden wir in einen Raum gebeten, dessen Tür geschlossen war. Es ist kühler, ein Massagesalon. Uns wird Tee gereicht, einer soll sich auf die Massageliege legen. Wir zögern. S. legt sich auf die Massageliege. Wir werden allein gelassen. Die Hebbel-Theater-Aufsichtsperson erscheint, verabschiedet uns.

Letzte Wohnung. Das Bühnenbild: Zementsäcke, Steine, ein Tischgrill, Würste, Fleisch darauf, es richt würzig, zwei Campingstühle daneben, dumpfes, abstoßendes Gebrüll erfüllt den Raum. Ein Mann in Maurerkleidung, mit nacktem Oberkörper, tätowiert, beginnt, die Tür zuzumauern. Stein auf Stein. An der Wand kauert auf einem Stein ein Huhn. Das Huhn ist echt. Das Gebrüll geht weiter, wir stehen etwas verschüchtert am Fenster, vor das eine Jalousie gezogen ist. Dann ist die Tür zugemauert. Der Mann nimmt sich ein Hähnchenstück vom Grill, setzt sich nach getaner Arbeit hin. Irgendwann verstummt das Gebrüll. Wir warten. Nichts geschieht, der Mann sitzt, isst. Dann kapieren wir: Wir müssen zum Fenster raus, Jalousie hochziehen, davor Stiegen, wir gelangen in den Garten, kommen durch den Keller zum Eingang zurück.

Wir verabschieden uns von der Bundeskulturstiftung. Wir trinken zwei Sprite, der türkische Bistro-Besitzer ist ein Mensch, der einen Spaß versteht. Bei uns hat er so seine Zweifel. Wir radeln nach Hause. Beim Schild "Friedrichshain" das Gefühl, aus der Fremde heimzukehren.

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