Mit einer raschen Geste räumt "L'Esquive" gleich zu Beginn die Klischees
beiseite, die sich mit der französischen Banlieue verbinden: Gewalt,
Drogen, Banden, Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen. An die Stelle
dieser Klischees setzt er Marivaux. Nicht weniger also als den Dramatiker
des 18. Jahrhunderts, der die scharfen sozialen Distinktionsvorschriften
seiner Zeit für unbedingt komödientauglich hielt, zum Amüsement
seines Publikums. Ferner kann den Jugendlichen der Vorstadt nichts liegen,
sollte man meinen, als das, was die engagierte Lehrerin da angeschleppt hat
und zur Aufführung bringen will. Was sich an Marivaux zeigen lässt,
sagt sie, ist der Glaube an die Kraft des Sozialen, der als
Lebensselbstverständlichkeiten eingeübten Gesten, Sprache,
Denkungsweisen.
Der Autor und Regisseur Abdel Kechiche hält das Drama, das sich rund
um die Proben zu Marivaux' "Ein Spiel von Liebe und Zufall" ergibt, für
unbedingt filmtauglich. Krimo, der zum Schauspiel unbegabteste Jugendliche,
der sich denken lässt, verliebt sich in Lydia, die als Zofe, die sich
als Herrin ausgibt, die Rolle ihres Lebens gefunden hat, im Rokokokleid,
den unaufhörlich gewedelten Fächer in der Hand, der outrierte Ton
der Bühnendiva sitzt ihr wie angegossen. Krimo verlässt Magali,
die zu ihm passt, die ihn liebt, und übernimmt die Rolle des Harlekins,
um Lydia nahe zu kommen. Die Lehrerin treibt er zur Verzweiflung, den
Marivaux-Text nuschelt er in Grund und Boden. Sein Ruf ist zudem ruiniert,
denn die besten Freunde pflegen eine Theaterfeindlichkeit, die der Rousseaus
in nichts nachsteht. Für Männer ist das nichts, die Schauspielerin
hat zudem nichts als Verführung im Sinn. Verführt jedenfalls
fühlt sich Krimo, von Lydia, die mit ihm probt, mit dem Fächer
wedelt, es ist im Grunde eine hoffnungslose Angelegenheit, er kommt dann
endlich zur Sache, küsst sie. Sie aber, ganz die Kokette, ziert sich,
bis zum Schluss, das Drama weitet sich aus auf das Umfeld der beiden.
Männersachen, Frauensachen, Freunde, Freundinnen: Gender-Konflikte.
Das Bühnendrama wird mit dem Lebensdrama verschränkt, auf allzu
leichte Verdopplungen aber verzichtet Kechiche. Realistischerweise kontrastiert
die Sprache der Jugendlichen aufs Schärfste mit der Marivaux. Der Film
lässt sich aber ganz darauf ein, auf die Gesten, die Tonfälle,
die Denkungsweisen. Er beobachtet, Dokumentarisches im Sinn, die Interaktionen,
die Leidenschaften, Borniertheiten, minutenlangen Tiraden, Redundanzen, kommt
den Jugendlichen immer wieder ganz nah mit der Handkamera, bis auf die
Münder einmal, oft sind die Gesichter in Großaufnahme zu sehen.
Auf jede Zurichtung ins Gefällige verzichtet er ganz, am Ende steht
die Aufführung des Marivaux-Stücks, zur sentimentalen Auflösung
des Liebesdramas aber kommt es nicht, die Geschichte endet im Beiläufigen.
Nur einmal bricht das, was man einzig mit der Realität der Banlieue
verbindet, ein, als Schock, aus dem Nichts, von außen. Eine ganz
alltägliche Polizeikontrolle, eine Gewalttätigkeit, die durch nichts,
was zu sehen war, gerechtfertigt ist, eine Brutalisierung des Sozialen durch
den Staat, der zwanghaft Unrecht wittert. Bewundernswert die entschlossene
Geste Kechiches, der hier einer anderen Realität den
größtmöglichen Raum einräumt, seinen Figuren alle Zeit
gibt, auch zur Redundanz, in der gerade die genaue Beschreibung des sozialen
Regelwerks möglich wird. Das Theater des Marivaux fügt sich als
integrierbarer Fremdkörper in diese soziale Realität - die sich
dadurch als weit komplexer erweist denn vom Klischee vermutet.
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