Die Musik arbeitet gegen die Bilder, gleich zu Beginn. Nicht mit
den Bildern. Hintertreibt die Bilder. Dieter Schleips grandios atonale
Klänge, es ähnelt dem Beginn von
"Deine besten Jahre" (die beiden Filme
gehören zu einer Trilogie), wieder eine Party, eine Frau, die spürt,
dass etwas nicht stimmt, dass man ihr etwas verschweigt. Immer mehr wird
Dominik Graf zum Meister des Atmosphärischen. Hier eine Einstellung
auf einen Gegenstand, hier ein Schleipscher Akzent, großartig einmal,
später, der Blick auf einen Pavillon im Garten, strahlend weiß
im Dunkel, narrativ bezugslos und auch kein Symbol. Es geht nicht um
Symbolisierung, nicht um Metaphern, sondern um die Einarbeitung des Gegenstands
(immer wieder: der gestohlene Schaukasten) als Leitmotiv, Novellentechnik,
aber vom Zwang zur direkten Bedeutung befreit. Im Nu evoziert Graf so
Komplexitäten, ein Blick, ein Klang, die leichte Unruhe der Kamera,
schroffer Schnitt.
Die Geschichte ist Kolportage, aber das gehört bei Graf längst
zum Prinzip. Er zwingt dem Trivialen wahre Gefühle ab, ohne den Umweg
über mimetische Glaubwürdigkeit. Ich kenne keinen anderen Regisseur,
der das hinbekommt, und meisterhafter von Film zu Film. Wie die Tonspur das
Bild hintertreibt, so unterlaufen die Darsteller alle psychologische Konvention.
Gegen das große Gefühl steht der Abbruch genau da, wor die Figur
erklärt würde. Grafs Erzählen treibt von Höhepunkt zu
Höhepunkt, aber indem er die beruhigenden Verbindungsstücke
auslässt, bleiben diese Höhepunkte erratisch. Er synkopiert Bild
wie Ton und nützt, Pausen nur an Stellen setzend, an denen man sie nicht
erwartet, die Wirklichkeitsvergessenheit der Kolportage, um eine Atmosphäre
zu schaffen, in der alles möglich scheint. Manchmal wollen die Bücher,
die er sich schreiben lässt, zu viel, es geht ihnen der Text über,
wo Intensität sein sollte und man merkt Graf die Arbeit an, mit den
Emotionen hinterherzukommen.
Dabei ist der Text zentral, denn das Genre ist das Melodram. Zu dem
gehört das Reden, das Erklären, das Hochpeitschen durchs Wort.
Die Darsteller bei Graf sind sprechende, nie schweigende Darsteller - und
Jessica Schwarz und Matthias Schweighöfer sind, wie schon in
"Die Freunde der Freunde",
großartig - sie sind aufgerührt, es geht, in diesen ganzen der
Kolportage, dem Klischee, der Unwahrscheinlichkeit abgetrotzten Geschichten
vor allem um das Modulieren komplexer Spannungen um eine Mitte herum, die
ausgespart bleiben muss. Nur dass der Betrachter, als Mitfiebernder, nicht
direkt an diese Spannungen angeschlossen werden soll, sondern selbst im
angespanntesten Verhältnis zu den Geschehnissen steht. Es gibt nicht
die Figur, der er oder sie sich anvertrauen kann, nicht das reine Gefühl,
auf das Verlass wäre.
"Kalter Frühling" hat eine moralische Botschaft und ein amoralisches
Ende. Sylvia, die beinah enterbte Tochter, wird sich gerächt haben,
wird ihren Vater verraten, ihre Mutter ans Kreuz geschlagen haben und so
ans Ziel ihrer Wünsche gelangt sein. Sie hat alles gewonnen und ihre
Seele verloren. Die Restitution der Familie gelingt um den Preis allseitigen
Verrats. Das letzte Wort ist Wahrheit und Lüge, darin steckt die
Radikalität dieses Films. "Ist alles gut?", fragt der Vater, nachdem
alle Beziehungen zur Tochter umgestürzt sind, nichts wiedergutzumachen
ist. "Ist alles gut?" "Ja", sagt die Tochter, die reine Wahrheit, die reine
Lüge, die sie jetzt leben wird.
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