Berlinale 2003
Der Bär
ist erlegt, Gold geht an Michael Winterbottoms
In This World, Silber an
Patrice Chéreau für Son
Frère und der Große Preis der Jury an Spike Jonzes
Adaptation.
Hier eine Liste sämtlicher Kritiken:
Chicago (Rob Marshall;
EK), Edi
(Piotr Trzaskalski; TR), In This
World (Michael Winterbottom, EK), Das Leben des David Gale
(Alan Parker;
TR/EK),
Hero (Zhang Yimou; EK),
Io Non Ho
Paura (Gabriele Salvatores; TR),
Adaptation (Spike Jonze; EK),
Pater
Familia (UM), The Hours
(Stephen Daldry; EK), Solaris
(Steven Soderbergh; EK),
Goodbye,
Lenin (Wolfgang Becker; EK),
My Life Without
Me (Isabel Coixet; EK), 196
bpm (Romuald Karmakar; TR),
La Fleur du Mal
(Claude Chabrol, EK),
Confessions of a
Dangerous Mind (George Clooney; EK),
Son Frère (Patrice
Chéreau; EK), Science
Fiction (Franz Müller; TR),
Lichter (Hans-Christian Schmid;
TR/EK), Blinder
Schacht (Li Yang; EK),
PTU (Johnnie To; EK),
Wolfsburg (Christian Petzold;
EK); The Twilight Samurai
(Yoji Yamada; EK); Der alte
Affe Angst (Oskar Roehler; EK);
Comandante (Oliver Stone,
EK); Company (Ram Gopal Varma;
EK)
F.W. Murnau: Tabu (Retrospektive;
EK)
Buddhadeb Dasgupta:
Manda Meyer Upakhyan
(Indien 2002; Panorama; EK)
F.W. Murnau: Schloss
Vogelöd (Retrospektive; EK)
Mabel Cheung, Alex
Law: Traces of the Dragon
- Jackie Chan and his Lost Family (Hongkong 2002; Forum; -MAERZ-)
.Park Chan-wook: Sympathy
for Mr. Vengeance (Südkorea 2002; Forum;EK)
Jang Sun-Woo:
Resurrection
of the Little Match Girl (Südkorea 2002; Panorama;
EK)
Daniel Eisenberg:
Something More Than
Night (USA 2002; Forum; EK)
Lynn Hershman Leeson:
Teknolust (USA 2002;
Forum; TR)
Sabu: The Blessing Bell
(Japan 2002; Forum; EK)
Jeff Lau: A Chinese Odyssey
2002,(Hongkong 2002; Forum; TR)
Junji Sakamoto: Bokunchi - My
House (Japan 2002; Panorama; EK)
Tsipi Reibenbach: A City With
No Pity (Israel 2002; Forum; EK)
Byun Young-joo: Mil-ae (Südkorea
2002; Forum; EK)
Shang Zhimin: Xinxin (China 2003:
Forum; TR)
Wang Bing: Yan Fen Jie
(China 2003; Forum; TR)
Yasujiro Ozu: Ich wurde geboren,
aber... (Werkschau Ozu; EK)
Andreas Dresen: Herr Wichmann
von der CDU (D 2003; Panorama; EK)
F.W. Murnau: Tartüff
(Retrospektive; EK)
F.W. Murnau: Faust (Retrospektive;
EK)
Abschlusskommentar
Drei Filme habe ich gesehen auf der diesjährigen Berlinale, deren
Bilder ich so schnell nicht vergessen werde - Murnau, Ozu und die Shaw-Brothers
mit ihren jeweiligen Retrospektiven natürlich nicht gezählt. Es
waren das Patrice Chereaus "Son Frere", Johnnie Tos "PTU" und Christian Petzolds
"Wolfsburg". Nur einer davon, "Son Frere", lief im Wettbewerb, die anderen
beiden hatte man im Forum und im Panorama versteckt. Natürlich weiß
jeder, dass die vermeintlichen Nebenreihen oft genug - neben manch Obskurem
- die aufregenderen, die kühneren und intelligenteren Filme zeigen;
für den Verzicht auf die konzentrierte Aufmerksamkeit der filminteressierten
Weltöffentlichkeit ist dieses Wissen aber kein Ersatz. Zu
unüberschaubar sind die Programme von Panorama und Forum, zu diffus
bleiben die Reaktionen, um über die Wirkung auf einzelne hinaus genug
Licht auf die herausragenden Filme zu werfen. So wurde etwa "PTU" (als
Weltpremiere im Forum zu sehen) kaum besprochen, Johnnie Tos bisher gewagtester
Film (unsere Reaktion hier). Mit dieser Polizei-Ballade entfernt er sich
mutig vom Hongkong-Action-Kino, dessen derzeit größter Meister
er ist. Größere formale Eleganz war nirgends zu bewundern, To
besitzt ein Rhythmusgefühl, das mehr mit Kino zu tun hat als
begrüßenswerte Polit-Botschaften oder gar die mehr oder weniger
manipulativen Emotionsmaschinchen, die Hollywood mit "The Hours" oder "Das
Leben des David Gale" ins Rennen geschickt hatte. Dabei wurde "The Hours",
der nicht mehr als Kunstgewerbe auf höchstem Niveau zeigte, sogar als
Favorit gehandelt. Die Jury traf jedoch die richtige Entscheidung und zeichnete
allein die drei Hauptdarstellerinnen mit dem Silbernen Bären aus: Meryl
Streep, Nicole Kidman und Julianne Moore teilen sich den Preis.
Von den Wettbewerbsfilmen kam Steven Soderberghs "Solaris" der formalen
Intelligenz Tos noch am nächsten. Nach seinen eher enttäuschenden
letzten Filmen "Ocean's Eleven" und "Full Frontal" beweist Soderbergh mit
seinem neuen Werk, dass er in Bildern und mit der Montage zu denken versteht
wie kaum ein anderer in Hollywood. Allerdings wird die Wirkung des Films
nicht zuletzt durch die - neben Ed Harris' Geschauspielere in "The Hours"
- manierierteste Darstellerleistung des Wettbewerbs beeinträchtigt
(über "Ja Zuster, Nee Zuster" decken wir lieber gnädig den Mantel
des Schweigens): der Goldene Gummibär für Grimassieren und Gefuchtel
geht an Jeremy Davies. Das - unter Inkaufnahme teils beträchtlicher
Nähe zum Kitsch - bildmächtigste Werk des Wettbewerbs war Zhang
Yimous politisch freilich höchst fragwürdiges Martial-Arts-Epos
"Hero", das immerhin den nach dem Berlinale-Gründer benannten
Alfred-Bauer-Preis erhielt.
Gleich zweimal vertreten war der Drehbuchautor Charlie Kaufman im
Wettbewerb. In "Adaptation" hat er sich gleich selbst in den Film geschrieben
und in einem Akt der Schizophrenie einen Zwillingsbruder gleich dazu. Beide
differieren beträchtlich in ihrem Schreibansatz, Action will der eine,
der andere liefert eher eine Art postmodernen Existenzialismus. Das Ergebnis
ist eine höchst selbstreflexive Mischung aus beidem - die Pointen jedoch
sind vorhersehbar und Spike Jonzes Regie bleibt (wie schon in "Being John
Malkovich") einfallslos. "Adaptation" erhielt den Großen Preis der
Jury. Über George Clooneys Debüt "Confessions of a Dangerous Mind"
wird man dasselbe nicht sagen können. Die Undiszipliniertheit von Kaufmans
Skript wird hier durch die Regie, die jedem passenden und leider auch jedem
unpassenden Einfall nachgibt, noch verdoppelt. Der Silberne Bär für
den Hauptdarsteller Sam Rockwell und seine Tour-de-Force-Leistung als
Fernsehproduzent und CIA-Killer Chuck Barris jedoch ist durchaus gerechtfertigt.
Ähnlich unkonzentriert wie Clooney ging nur Spike Lee zu Werke, dessen
Moritat vom verantwortungslosen Drogendealer, "The 25th Hour", den 11. September,
sämtliche in Manhattan aufzutreibenden Ethnien und mehr als eine
überflüssige Nebengeschichte unter einen Hut bekommen wollte. Das
Ergebnis fiel erwartungsgemäß viel zu lang, viel zu redselig und
auf die Dauer ungeheuer ermüdend aus.
Eher finster ging es zu im Wettbewerb, die Presse gewöhnte sich
nur mühsam an die regelmäßig zur frühen Morgenstunde
ausgeteilten weltpolitischen Tiefschläge . Der beste unter den politischen
Filmen blieb der erste, Michael Winterbottoms "In This World", das
halbdokumentarische Road-Movie einer Flucht von Pakistan nach London. Beherzt
folgt die digitale Kamera ihren Hauptfiguren und die heikle Gratwanderung
zwischen Realität und Fiktion, die der Film unternimmt, glückt
durchweg. Der Goldene Bär für "In This World" geht deshalb völlig
in Ordnung.
In die düstere Welt des illegalen Kohlebergbaus in Nordchina
zwang einen Li Yangs auch mit deutschem Geld finanzierter "Blinder Schacht",
der sich als Parabel auf den Transformationsprozess im heutigen China versteht.
Auch ihn hat die offenkundig den engagierten Filmen zugeneigte Jury mit einem
Preis bedacht: der Regisseur, Li Yang, erhält den Silbernen Bären
für den wichtigsten künstlerischen Beitrag.
Zwei Filme postierten sich und ihre Geschichten ausdrücklich
an der EU-Außengrenze, Damjan Kozoles Schleuser-Porträt "Ersatzteile"
an der italienisch-slowenischen, Hans-Christian Schmids Episodenfilm "Lichter"
an der deutsch-polnischen. Womit wir bei den deutschen Filmen wären.
Schmid, ohne Frage einer der vielversprechendsten unter den jüngeren
deutschen Regisseuren, enttäuschte mit seinem Ensemblestück. Zu
plakativ fielen die einzelnen Geschichten aus, zu wenig Raum blieb angesichts
des abzuarbeitenden Erzählpensums für die Details, fürs Nebenbei,
als dessen Meister sich der Regisseur in seinen bisherigen Filmen erwiesen
hatte.
Dem freundlichen Echo bei Presse und Publikum zum Trotz: Wolfgang
Beckers mit Spannung erwartete DDR-Tragikomödie "Good Bye, Lenin!" scheitert
auf der ganzen Linie, und zwar am Unvermögen des Drehbuchs, aus der
hübschen Grundidee - ein Sohn gaukelt seiner Mutter die Weiterexistenz
der DDR nach der Wiedervereinigung vor - mehr als die absehbaren Pointen
zu entwickeln. Ein bisschen mehr als ein Trostpreis ist der von der Jury
an den Film vergebene "Blaue Engel". Der mit Abstand beste deutsche Film
freilich lief nicht im Wettbewerb, sondern im Panorama, Christian Petzolds
fürs Fernsehen entstandenes Auto-Schuld-und-Sühne-Drama mit dem
sehr treffenden Titel "Wolfsburg", das aus der Strenge seiner Form eine bewegende
Geschichte entwickelt, deren Präzision keiner der anderen deutschen
Filme nahe kam.
Der beste, der einzige wirklich große Film des Wettbewerbs war
jedoch Patrice Chereaus Brüderdrama "Son Frere", das den mit "Intimacy"
eingeschlagenen Weg der Erkundung des menschlichen Intimbereichs radikalisierend
fortsetzte. Spektakuläre Bilder hat Chereau dabei nicht nötig -
das Wunder seines Films ist eine Eindringlichkeit, die sich aus dem Verzicht
auf psychologische Erklärungen, aus dem beharrlichen Blick auf sich
auflösende Grenzen des Zwischenmenschlichen ergibt. Atemberaubend der
Musikeinsatz, unendlich weit entfernt vom gefühlserpresserischen
Philip-Glass-Gedudel von "The Hours"; erst kurz vor Schluss durchbricht Chereau
die bis dahin ganz auf Geräusche und Dialoge konzentrierte Musiklosigkeit.
Die Wirkung des bewusst gesetzten Pathos ist ungeheuer: einen
größeren Moment als die ersten Klänge von Marianne Faithfulls
Song hatte das Festival nicht zu bieten. Nach dem Goldenen Bären für
"Intimacy" vor zwei Jahren wollte die Jury wohl nicht erneut den Hauptpreis
an Chereau vergeben. Zur Entscheidung, ihm den Silbernen Bären für
die Beste Regie zu verleihen, kann man ihr daher nur gratulieren.
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