Berlinale 2004
Hier eine Liste sämtlicher Kritiken:
Wettbewerb:
Stéphane Vuillet:
25 Grad im Winter (Belgien, Frankreich 2003)
Sylvia Chang: 20:30:40 (Taiwan, China
2003)
Theo Angelopoulos: Trilogia. Die
Erde weint (Griechenland 2003)
Eric Rohmer: Triple Agent
(Frankfreich 2003)
Fatih Akin: Gegen die Wand (Deutschland
2003)
Omar Naim: The Final Cut (USA
2003)
Romuald Karmakar: Die
Nacht singt ihre Lieder
(D
2003)
Joshua Marston: Maria
voll der Gnade (USA 2003)
Richard Linklater: Before
Sunset (USA 2003)
Kim Ki-duk: Samaritan
Girl (Südkorea 2003)
John Boorman: Country
of My Skull (GB 2003)
Patrice Leconte: Confidences
Trop Intimes (F 2003)
Anthony Minghella: Cold Mountain
(GB/USA 2003)
Panorama:
Brad Anderson: The Machinist
(Spanien 2003)
Chantal Akerman: Demain,
on déménage (F/Belgien 2003)
Eyal
Sivan, Audrey Maurion: Aus Liebe zum Volk (F
2003)
Andrew Horn: The Nomi Song
(USA 2003)
Genjirou
Arato: Akame 48 Waterfalls (Japan 2003)
John Greyson,
Jack Lewis: Proteus (Südafrika 2003)
William Kwok Wai Lun: Darkness
Bride (Hongkong / Taiwan 2003) (TR)
M.X. Oberg: Stratosphere
Girl (D 2003) (TR)
E J-yong: Untold Scandal
(Südkorea 2003)
Forum:
Sudhir Mishra:
A Thousand Dreams Such as These (Indien 2003)
Ann Hui: Goddess of Mercy (China
2004)
Vishal
Baradwaj: Maqbool (Indien 2004)
Mario
van Peebles: Gettin' the Man's Foot Outta Your
Baadassss (USA2003)
Apichatpong
Weerasethakul, Michael Shaowanasai: The Adventure of Iron Pussy (Thailand
2003)
Boris Chlebnikow: Koktebel (Russland
2003)
Nikhil Advani: Kal Ho Naa Ho (There
May Be No Tomorrow, Indien 2003)
Catherine Breillat: Anatomie de
l'enfer (F 2003)
My Girl (Kollektivprojekt von sechs
Regisseuren; Thailand 2003)
Nonzee Nimibutr: Baytong
(Thailand
2003)
Paul
Cronin: Film as Subversive Art
(USA 2003)
Johnnie
To, Wai Ka Fai: Running on Karma (Hongkong
2002)
Sabu: Hard Luck Hero
(Japan 2003)
Kim Jee-woon: A Tale
of Two Sisters (Südkorea 2003)
Resümee von Ekkehard Knörer
Was für eine Berlinale: Es begann mit einer Lachnummer, als zum
grottenschlechten "Cold Mountain" noch nicht einmal die Stars, deretwegen
man ihn zum Eröffnungsfilm gemacht hatte, aufkreuzen wollten. Nicole
Kidman schmollte, weil sie nicht für den Oscar nominiert wurde, wenigstens
Renee Zellweger kam ein paar Tage später nach, oscar-nominiert, obwohl
ihr für ihren Auftritt in "Cold Mountain" eher die goldene Himbeere
für schamloses Overacting zustünde. Zum allgemeinen Eindruck, dass
die erste Hälfte des Wettbewerbs doch einiges zu wünschen übrig
ließ, kann ich, da ich mich vor allem in den anderen Reihen herumgetrieben
habe, nur sagen, dass Patrice Lecontes "Confidences trop intimes" außer
einer hübschen Grundidee und Sandrine Bonnaire wenig und John Boormans
bemühte, aber unbeholfene Südafrika-Story "Country of My Skull"
auch nicht mehr zu bieten hatte.
Von den elf Filmen, die ich dann aber sah, scheinen mir nicht weniger
als sieben durchaus preiswürdig. Es war, keine Frage, insgesamt der
stärkste Wettbewerb der letzten Jahre. Vor allem war die Diversität
des Gelingens erfreulich: von Richard Linklaters fast schwereloser romantischer
Komödie "Before Sunset" (bei der Preisverleihung leider ganz leer
ausgegangen), über Filmkunst alten Schlages (Rohmer, Angelopoulos) bis
zu - international jedenfalls - noch Unbekannten wie Fatih Akin, der den
Goldenen Bären zur allgemeinen Überraschung, aber völlig zu
Recht erhielt. Sein "Gegen die Wand" ist ein kraftvoller, mutiger und - obwohl
er die beiden Hauptfiguren durch Selbstmordversuche aneinander geraten
lässt - auch höchst lebendiger, alle Genrezuordnungen schlicht
sprengender Film. Kein anderer Wettbewerbsbeitrag, den ich gesehen habe,
konnte einen von Anfang bis Ende derart davon überzeugen, dass er gemacht
werden musste, unbedingt und mit Notwendigkeit. Es ist der erste Goldene
Bär für einen deutschen Film seit Reinhard Hauffs "Stammheim" im
Jahr 1986.
Es mag sein, dass das ganz große Meisterwerk in diesem Jahr
nicht darunter war - jedoch ist es ohnehin so, dass eine wirklich
verlässliche Entscheidung darüber in einer Situation, in der man
drei, vier, fünf Filme am Tag sieht, eigentlich nicht möglich ist.
Man ist müde und gelegentlich nicht besonders aufnahmefähig, denkt
noch über eine paar schiefe Sätze nach, die man gerade geschrieben
hat, man hat zu wenig gegessen oder zuviel oder ärgert sich über
die Kollegen, die ihren Unwillen über das Geschehen tief unten auf der
Leinwand unbedingt während der Vorstellung demonstrieren müssen.
Nicht selten ändern sich die Urteile über die Filme bei einer zweiten
Sichtung unter ruhigeren Umständen, und zwar in aller Regel zum Positiven.
Man denke an die vernichtenden Kritiken zu Dominik Grafs "Der Felsen" (mehr)
im vorletzten Jahr - beim Kinostart waren plötzlich weithin Hymnen zu
lesen (und beim Publikum genützt hat das dann wieder gar nichts.)
Besonders schwer haben es deshalb, naturgemäß, die schwierigen
Filme, die Geduld, Aufmerksamkeit, Reflexion verlangen. So kann man von Theo
Angelopoulos' fast dreistündigem Geschichtswerk "Die Erde weint" eigentlich
nur überfordert sein - das Bedauerliche ist nur, dass Überforderung
schnell in Ablehnung umschlägt. Eric Rohmer konzentriert sich in "Triple
Agent" ohne alle Kompromisse auf einen Spionagefall und seine
Undurchsichtigkeiten, und zwar in einer Konzentration all dessen, was sein
Kino von Beginn an ausgemacht hat: Aushandlung im Dialog, Entfernung alles
Überflüssigen, Kunst der Darsteller ohne falsches Spiel. So ist
die an entscheidender Stelle eingesetzte doppelte Irisblende die klügste
formale Entscheidung in den Wettbewerbsfilmen, die ich gesehen habe, und
der Film als ganzer ein abgeklärtes Alterswerk, dessen Dialog-Reflexionen
und Spiegelkorridoren man sich nur anvertrauen musste, um es überaus
spannend zu finden.
Die Kollegen wollten freilich zum großen Teil nicht und buhten
aus selbst verschuldeter Langeweile. Gänzlich fassungslos musste allerdings
jeden seriösen Betrachter machen, was während der
Pressevorführung des zweiten deutschen Wettbewerbsfilms, Romuald Karmakars
"Die Nacht singt ihre Lieder" geschah: Große Teile der Kritik hämten
und höhnten aus frustrierter Realismuserwartung gegen einen Film, dem
höchstens ein Übermaß an Kunstverstand vorzuwerfen ist und
sonst gar nichts. Karmakar wiederum ging während der Pressekonferenz
schon mit dem ersten Satz frontal auf vermeintlich hollywoodhörige
Journalisten los und hätte man ihm eine Waffe in die Hand gedrückt,
er hätte vermutlich den einen oder anderen abgeknallt.
Besonders gern genommen sind - schon gar seit Dieter Kosslicks Amtsantritt
- Themenfilme, die sich nicht allzu dumm anstellen; dazu zählten in
diesem Fall der nette, aber gänzlich belanglose "Maria voll der Gnade"
genauso wie Ken Loachs bestürzend schlichter "Ae Fond Kiss". Kolumbianische
Drogenschmugglerin hier, pakistanische Immigrantenfamilie in Glasgow da,
wirklich außergewöhnlich ist an beiden Filmen nur ihre
ästhetische Biederkeit und die Vorhersehbarkeit des Geschehens. Dass
nun ausgerechnet "Maria voll der Gnade", ein gänzlich konventioneller
Fernsehfilm, den Alfred-Bauer-Preis für Innovation erhält, deutet
sogar darauf hin, dass eine gewichtige Minderheit der Jury eher den Goldenen
Bären für ihn im Sinn hatte. Klarer Fall von "art follows message",
von dem auch die Hauptdarstellerin Catalina Sandino Moreno mit einem Silbernen
Bären profitierte. Sie teilt ihn sich mit Charlize Theron, die sich
für ihre Rolle in "Monster" in wenigen Wochen voraussichtlich auch den
Oscar abholen darf.
Gänzlich unter ging dagegen Kim Ki-duks für seine
Verhältnisse sehr stille Elegie "Samaritan Girl", die sich weit von
einer außerhalb der selbst erzeugten Konstellationen nachvollziehbaren
Geschichte entfernte und einen Vater zum Rächer seiner als Prostituierte
tätigen Tochter macht. Es schien, dass der koreanische Regisseur seine
alten, Rabiateres gewohnten Fans vergraulte, ohne - unter den Kritikern
jedenfalls - neue gewinnen zu können. Dabei ist "Samaritan Girl" ein
schönes, trauriges, reifes Werk. Die Jury-Entscheidung, den Silbernen
Bären für beste Regie an Kim Ki-Duk zu verleihen, ist so eine
notwendige Wahrnehmungskorrektur.
Die weiteren Preise: Silberner Bär für herausragende
künstlerische Leistung an das gesamte Ensemble von "Morgengrauen"
(Björn Runge) und Silberner Bär für die beste Filmmusik an
Banda Osiris für den allgemein vernichtend besprochenen italienischen
Film "Primo Amore" von Matteo Garrone. Und zu guter Letzt: Silberner Bär
für den besten Darsteller an Daniel Hendler, der im mit dem Großen
Preis der Jury und damit dem zweitwichtigsten Preis, bedachten "El Abrazo
Partido" die Hauptrolle spielt.
zur Jump Cut Startseite
|